Antwort des Hrn. Maimon auf voriges Schreiben.

 

In: Berlinisches Journal für Aufklärung. 1790. Bd. IX, 52-80.

 

Würdigster Freund!

Ihr Schreiben vom ... habe ich erhalten. Sie äusserten hierin Ihren Wunsch, daß ich mich über den Plan des Ihnen zugeschickten Werkes bestimmter erklären, und den Leser in Ansehung der von mir ergriffnen Parthei ausser Zweiffel setzen möchte, indem Sie glauben, daß dieses im Werke selbst nicht auf eine völlig bestimmte Art geschehn sey. Aber wozu dieses? Die Partheien lassen sich hier nicht so genau bestimmen, und die Sekten in der Philosophie lassen sich nicht wie die Gegenstände der Naturgeschichte unter bestimmte Klassen bringen. Da Sie es aber doch haben wollen, und da Sie glauben, daß dieses zur bessern Verständlichkeit und Übersicht des Ganzen des gedachten Werks beytragen kann, so will ich Ihnen hierin willfahren.

Ich behaupte, daß die Kritik der reinen Vernunft in Ansehung ihres Resultats wider die Dogmatisten unwiderleglich sey, und daß also die Frage: Ist Metaphysik möglich? (in dem Sinn, worinn Herr Kant es nimmt, nämlich, als eine Wissenschaft der Dinge an sich) mit Nein beantwortet werden muß, behaupte aber zugleich, daß dies System unzulänglich sey, und dieses in zweyerley Betracht. Erstlich ist es unzulänglich, um dadurch allen Dogmatism überhaupt umzustoßen, indem ich beweise, daß, wenn man unter Metaphisik nicht die Wissenschaft der Dinge an sich, welche sich auf auf keinerley Weise denken läßt sondern blos die Wissenschaft von den Gränzen der Erscheinungen (Ideen) verstehet, die die eigentlichen Objekte des vollständigen Denkens sind, und worauf man durch Erkenntnis der Objekte der Erscheinung nothwendig geführt wird, in diesem Betracht Methaphisik nicht nur möglich, sondern sogar nothwendig ist, weil sonst keine Erkenntnis eines Objekts überhaupt möglich wäre.

Ich bin also mit Herrn Kant hierinn einig, daß die Begriffe der Methaphisik keine reelle Objekte der Erfahrung, sondern bloße Ideen, zu denen man sich immer in der Erfahrung nähern kann, sind, behaupte aber zugleich, daß nicht nur in der Methaphisik, sondern auch in allen andern Wissenschaften, wenn sie diesen Namen verdienen sollen, die eigentliche Objekte derselben Ideen sind. Zweytens ist dies System unzulänglich, um dadurch allem fernern Dogmatism vorzubeugen. Ich werde mich hierüber näher erklären.

Erstlich weiche ich von Herrn Kant ab in Ansehung des Unterscheids zwischen Ding an sich, und Begriff oder Vorstellung eines Dinges. Nach Herrn Kant ist Ding an sich dasjenige ausser unserm Erkenntnisvermögen, worauf sich der Begriff oder die Vorstellung in demselben bezieht. Ich behaupte hingegen, daß das Ding an sich in diesem Verstande ein leeres Wort ohne alle Bedeutung ist, indem man nicht nur das Daseyn dieses Dinges nicht beweisen, sondern sich auch von demselben gar keinen Begriff machen kann, und nach mir sind Dinge an sich, und Begriff oder Vorstellung eines Dinges objektive eines und eben dasselbe, und nur subjektiv, d.h., in Beziehung auf die Vollständigkeit unsrer Erkenntnis von einander unterschieden. Ein Dreyeck z.B. ist an sich betrachtet, Ding (Objekt des Denkens) und Begriff eines Dinges, (allgemeines Merkmal) dieses aber in Beziehung auf jenes Ding an sich u. dergl. Was dem Begriffe eines Dinges zukömmt, kömmt nothwendig dem Dinge selbst zu, was aber dem Dinge selbst zukömmt, kömmt dem Begriffe desselben nur insofern zu, in wiefern er mit ihm identisch ist. Ein reguläres Poligon ist in Beziehung auf den Zirkel (in dem oder um den es beschrieben wird) Begriff; der Zirkel hingegen in Beziehung auf das Poligon Ding an sich. Vom Poligon kann ich behaupten, daß man darinn gewisse zwo Punkte (die irgend eine Seite desselben begränzen, und sich in dessen Mittelpunkt einander schneiden) von der Art, daß sie einander gleich sind denken kann, dieses ist auch vom Zirkel wahr. Hingegen wird vom Zirkel behauptet, daß alle Linien, die aus dem Mittelpunkt zu demselben gezogen, werden sich einander gleich sind, welches vom Poligon nur insofern, daß es mit dem Zirkel identisch ist, (in ihren Vereinigungspunkten) wahr seyn kann, u. dergl. mehr. Das Ding an sich ist also eine Vernunftidee, die von der Vernunft selbst zur Auflösung einer allgemeinen Antinomie des Denkens überhaupt gegeben ist. Denn das Denken überhaupt bestehet in Beziehung einer Form (Regel des Verstandes) auf eine Materie. (das ihre subsumirte Gegebne) Ohne Materie kann man zum Bewußtseyn der Form nicht gelangen, folglich ist die Materie eine nothwendige Bedingung des Denkens, d.h. zum reellen Denken einer Form oder Verstandesregel muß nothwendig eine Materie, worauf sie sich beziehet, gegeben werden; auf der andern Seite hingegen erfordert die Vollständigkeit des Denkens eines Objekts, daß nichts darinn gegeben, sondern alles gedacht werden soll. Wir können keine dieser Forderung als unrechtmäßig abweisen, wir müssen also beyden Genüge leisten dadurch, daß wir unser Denken immer vollständiger machen, wodurch die Materie sich immer der Form nähert bis ins Unendliche, und dieses ist die Auflösung dieser Antinomie.

Zweytens. Die Hauptfrage, die die Kritik der reinen Vernunft veranlaßt hat, ist: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Diese Frage ist von Herrn Kant, in dem Sinne, den er damit verknüpft, auch befriedigend aufgelößt worden. Hingegen glaube ich berechtigt zu seyn diese Frage in einem engern Sinn aufzuwerfen, wodurch die Auflösung des Herrn Kants unbefriedigend wird. Nämlich nach Herrn Kant ist eine Erkenntnis a priori, wenn die Materie sowohl als die Form derselben im Erkenntnisvermögen selbst gegründet ist, ohne darauf zu sehen, ob die Verknüpfung von Materie und Form schon vor ihrer Entstehung aus einer andern ihr vorhergegangenen Erkenntnis sich begreiflich machen läßt oder nicht. Wenn er also diese Hauptfrage in die ihr untergeordneten abtheilt, und fragt z.B. wie sind synthetische Sätze a priori in der Mathematik möglich? so ist die Bedeutung blos, wodurch gelangen sie zu einem Daseyn in unsrer Erkenntnis? worauf die Antwort: durch einer Konstrukzion a priori, (aus Vermögen unsrer Erkenntnis selbst) völlig befriedigend ist. Nach mir hingegen hat diese Frage folgende Bedeutung: Wir sind sowohl vom Daseyn als von der Art des Daseyns dieser synthetischen Sätze a priori durch Konstrukzion völlig überzeigt, die Frage ist aber? Wie ist ihr Daseyn in uns a priori (aus einer vorhergegangenen Erkenntnis) begreiflich? z.B., der Begriff eines gleichseitigen Dreyecks hat nicht blos sein Daseyn in der wirklichen Konstrukzion (indem man ein Dreyeck überhaupt konstruirt, und die Gleichheit der Seiten als möglich hinzudenkt) sondern wie uns Euklides (T. 1.) belehrt, wir von seiner Realität schon vor seiner wirklichen Konstrukzion überzeugt sind, wodurch diese Konstrukzion selbst nicht nur bewerkstelligt, sondern auch begreiflich wird. So ist auch jeder analytische Satz schon vor der Konstrukzion des Begriffs aus der discursiven Erkenntnis begreifich. Hingegen wird uns die Wahrheit der mathematischen Axiomen aufgedrungen, ohne auf irgend eine Weise begreiflich gemacht zu werden, und dieses ist die formelle Unvollständigkeit unsrer Erkenntnis in Ansehung derselben. Es giebt aber auch eine unvermeidlich materielle Unvollständigkeit derselben, wenn nämlich die Konstrukzion den Bedingungen des Begriffs nicht völlig (indem er sich aufs Unendliche erstreckt) entsprechen kann. Es entstehet hier eine Antinomie, indem von der einen Seite die Vernunft uns befiehlt, dem Begriffe keine Realität beyzulegen, als nur insofern er konstruirt werden kann, weil die Realität dessen, was nicht konstruirt werden kann, weil die Realität dessen, was nicht konstruirt werden kann, blos problematisch ist. Auf der andern Seite hingegen fodert die Vernunft, daß der Satz blos vom vollständigen Begriffe, wie er vom Verstande gedacht, nicht aber vom Unvollständigen, wie er von der Einbildungskraft konstruirt wird, gelten soll!

Die zwote untergeordnete Frage ist: Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? Ihre Bedeutung ist nach Herrn Kant diese: Wie kann der Verstand den Dingen ausser demselben a priori Gesetze vorschreiben? Die Auflösung dieser Frage ist nach ihm diese: Der Verstand kann keineswegs den Dingen an sich ausser demselben Gesetze vorschreiben, sondern blos denselben, insofern sie von der Sinnlichkeit angeschauet und vom Verstande gedacht werden. Die Gesetze des Verstandes sind Bedingungen des Denkens eines Objekts überhaupt. Sie müssen daher von allen Objekten a priori gelten. Auf diese Art sind also syntetische Sätze der Natur a priori möglich. Dies Grundlage dieser Gesetze sind die bekannten logischen Formen oder die Arten der Beziehungen der Objekte auf einander. Hiezu kömmt noch die Cathegorie oder die besondre Bestimmung dieser Formen in Ansehung der Objekte, worauf sie bezogen werden, wodurch sie ihre Realität erhalten. Diese besondre Bestimmung muß nicht in den Objekten selbst a posteriori, sondern in Etwas a priori, das sich auf das Objekt a posteriori beziehet, angetroffen werden. Und da sie nicht in diesen logischen Formen selbst ist, so kann diese Bestimmung nicht anders als in den Formen der Sinnlichkeit a priori angetroffen werden u.s.w. Wie dieses alles Ihnen aus der Kritik der reinen Vernunft bekannt seyn muß.

Hier bemerke ich wieder neue Lücken. Erstlich glaube ich, daß man genau unterscheiden muß, zwischen den eigentlichen logischen Formen und den in den logischen Schriften dafür ausgegebenen. Um dieses zu erläutern nehme ich z.B. die Form der hypothetischen Sätze: Wenn ein Ding a gesetzt wird, si muß auch ein andres Ding b gesetzt werden. Diese Form an sich ist blos problematisch, und kann also nur durch ihren wirklichen Gebrauch Realität bekommen. Ist also der Gebrauch selbst unerwiesen, so ist auch diese Form ohne alle Realität. David Hume leugnet den Gebrauch dieser Form, nämlich den Begriff der Ursache, oder das Urtheil: Wenn ein Ding b gegeben wird, so muß es ein anderes Ding a geben, worauf es nach einer Regel folgt, indem er zeigt, daß dieses (in Beziehung auf bestimmte Gegenstände) kein Verstandesurtheil, sondern blos eine Folge der Association der Einbildungskraft ist, und dieses, wie ich glaube, mit Recht; denn ein Verstandesurtheil enstehet nicht nach und nach, und ist daher von der Gewohnheit unabhängig, so wie es hier der Fall ist. Die Wilden, die den Gebrauch des Feuers nicht kennen, werden gewis bey der ersten Wahrnehmung des Feuers und hierauf die Erwärmung des Steins, nicht sogleich urtheilen: Das Feuer erwärmt (macht warm, ist Ursache) den Stein, sondern nachdem sie die Folge dieser Erscheinungen auf einander mehrere male wahrgenommen haben. so werden sie in ihrer Einbildungskraft in eben der Ordnung verknüpft, in der sie wahrgenommen worden sind, so, daß wenn eine dieser Erscheinungen ihnen vorkömmt, alsdann auch die Andere in öfters wahrgenommener Ordnung vorgestellt wird. Es ist also hier blos eine subjektive Nothwendigkeit nach einem empirischen Gesetze, keineswegs aber, eine objektive Nothwendigkeit a priori. Herr Kant hat zwar bewiesen, daß wir keinen Begriff von einem Objekt überhaupt (wie hier z.B vom Entstehen eines Dings) haben können, wo nicht das Urtheilsvermögen, die für sich in Ansehung der Objekte unbestimmte logische Form durch ein Urtheil bestimmt. Aber wenn ich behaupte mit D. Hume, daß dieses kein Verstandesurtheil sey, so leugne ich zugleich das davon abhängende Faktum selbst, indem ich behaupte, daß, wenn wir urtheilen, daß ein Ding b entstehet, so geschieht es blos, weil wir urtheilen, daß es auf a nach einer Regel (daß beständig a vorhergehen und b folgen muß) folgt, da aber dieses kein Verstandesurtheil ist, (wir nennen die uns angewöhnte Art der Folge dieser Dinge auf einander wirkliche Erfahrung, die andern aber ein bloßes Spiel der Einbildungskraft) so bestehet Alles, was Herr Kant bewiesen hat, also blos darinn, daß sich diese beyde wechselsweise voraus setzen, d.h., um ein wirkliches Entstehen zu denken, muß man das zuentstehende Ding in Ansehung eines andern Dinges in einer Folge nach einer Regel denken, und auch umgekehrt, und dieses wird wird ihm Niemand streitig machen. Die Frage ist aber hier nicht nach der logischen Beziehung dieser Gedanken auf einander, sondern nach ihrem reellen Gebrauche, und dieses ist eben, was nicht zugegeben werden kann. Und da also der Begriff von Ursache in Beziehung auf bestimmte Gegenstände der Erfahrung keine Realität hat, so hat auch der Begriff von Ursache überhaupt, als eine Abstraction davon keine Realität.

Wird man sagen: Zugegeben, daß die Gleichförmigkeit der Wahrnehmungen der Grund dieser Gewohnheitsurtheile ist, was ist aber der Grund dieser Gleichförmigkeit selbst? So antworte ich, diese Frage trift diese Theorie nicht mehr als die Kantische. Herr Kant sagt zwar, es muß eine Regel a priori geben, die die auf einander bezogne Wahrnehmungen bestimmt, weil sonst die Einbildungskraft keinen Stoff zu ihrer Thätigkeit finden wird. Folglich ist die Ordnung der Dingen in Beziehung auf einander a priori bestimmt. Ich muß aber gestehen, daß ich die Stärke diese Arguments nicht einsehen kann. Gesetz, es wäre keine unveränderliche Ordnung unter den Wahrnehmungen, wäre nur zugleich keine unveränderliche Unordnung unter denselben, so hätte doch die Einbildungskraft immer Stoff genug zu ihrer Wirksamkeit, indem diese keine unveränderliche, sondern blos eine oft wiederholte Folge der bestimmten Wahrnehmungen auf einander voraus setzt, so daß der Grad ihrer Wirksamkeit durch den Grad dieser Wiederholung bestimmt wird. Dieser Vorstellungsart zufolge ist also der Begriff von Ursache keine Kathegorie, sondern eine Idee, zu der man sich im Gebrauche immer nähern, die man aber nie erreichen kann. Je öfter man die Folge bestimmter Wahrnehmungen auf einander bemerkt hat, desto genauer werden diese unter einander in unsrer Einbildungskraft verknüpft, wodurch die subjektive Nothwendigkeit dieser Folge sich der objektiven immer nähert, ohne sie doch erreichen zu können. Und so ist es auch mit allen übrigen Kathegorien beschaffen.

Nachdem ich also die Schwierigkeiten der Kantischen Theorie gezeigt habe, will ich nun einen in etwas verschiedenen Weg einschlagen, wodurch, wie ich glaube, diese, wenn nicht völlig gehoben, doch um ein beträchtliches vermindert werden kann.

Die allgemeine Antinomie des Denkens überhaupt, enthält augenscheinlich ihre Auflösung in sich selbst, diese bestehet darin: Die Vernunft fodert, daß man das Gegebne in einem Objekte nicht als etwas seiner Natur nach unveränderliches betrachten muß, sondern blos als eine Folge der Einschränkung unsres Denkvermögens. Die Vernunft gebietet uns daher einen Fortschritt ins Unendliche, wodurch das Gedachte immer vermehrt, das Gegebne hingegen bis auf ein unendlich Kleines vermindert wird. Es ist hier die Frage nicht, wie weit wir hierinn kommen können, sondern blos aus welchem Gesichtspunkt wir das Objekt betrachten müssen, um darüber richtig urtheilen zu können? Dieser (Gesichtspunkt) ist aber nichts anders als die Idee des allervollkommensten Denkvermögens, wozu wir uns immer nähern müssen bis ins Unendliche.

Die mathematische Antinomie, indem sie mir der vorigen einen ähnlichen Ursprung hat, wird auf eine ähnliche Art aufgelößt. Ich will mich hierüber näher erklären.

Es giebt zweierley Arten der Konstrukzion, nämlich eine Objekt- und eine Schema-Konstrukzion, d.h., entweder wird das Objekt selbst völlig seinen Bedingungen (im Verstande) entsprechend, in der reinen Einbildungskraft a priori dargestellt, oder er kann nicht völlig seinen Bedingungen entsprechend a priori, sondern blos vermittelst einer empirischen Konstrukzion dargestellt werden.

Wenn man die Gleichung eines Zirkels algebraisch ausdrückt, und eine beliebige Anzahl Punkten bestimmt, die derselben Genüge leisten, so hat man die Konstrukzion eines Zirkels a priori, aber dadurch werden nur einige Punkten im Zirkel, die die loci geometrici dieser Formel sind, nicht der Zirkel selbst, als eine stetige Größe, als eine einzige Linie konstruirt; soll dieses geschehen, so muß man diese Punkte durch gerade Linien verbinden. Aber alsdann entspricht diese Konstrukzion nicht völlig ihrem Begriffe entsprechend, indem sie nur in den bestimmten Punkten demselben gemäß ist. Beschriebt man hingegen einen Zirkel durch Bewegung einer Linie um einen ihrer Endpunkten, alsdann wird die Konstrukzion dem Begriffe völlig entsprechen. Ich glaube, daß dieses auch der Grund sey, warum die alten Geometer bis auf Kartesius die krumme Linien (ausser dem Zirkel) mechanische Linien, und nur die gerade Linie und den Zirkel geometrische Linien genannt haben, und daher auch den erstren nicht gern einen Platz in ihrer Geometrie haben einräumen wollen. Kartesius wunderte sich darüber nicht wenig, und meinte, daß sie dazu keinen Grund hatten. Denn. sagt er, sollen sie die krummen Linien deswegen mechanische Linien genannt haben, weil man sich zu ihrer Beschreibung einiger Maschinen bedienen muß, so hätten sie aus eben den Grund auch den Zirkel und die gerade Linie aus ihrer Geometrie weglassen müssen, indem auch diese vermittelst des Zirkels und Lineals beschrieben werden müssen. Er glaubte hingegen, daß alles, was sich genau angeben läßt, mit Recht geometrisch genannt werden kann, und von dieser Art sind alle die Linien, die durch eine stete Bewegung oder auch durch mehrere Bewegungen, die auf einander folgen, sich einander wechselweise bestimmen. (1)

Aber wie es scheint, hat dieser große Mann nicht bemerkt, daß eine geometrische Linie zwo Kriterien hat, erstlich muß sie eine Linie, d.h., eine stätige Größe seyn, sonst gehörte sie nicht zur Geometrie. Zweytens muß sie auf irgend einer Weise ausmeßbar, d.h., eine geometrische Linie seyn. Wenn eine krumme Linie vermittelst ihrer Gleichung konstruirt werden soll, so kann es nur dadurch geschehen, daß man einige Punkte bestimmt, von der Art, daß die von ihnen zum Diameter gezognen Linien mit den dadurch abgeschnittnen Linien des Diameters in dem durch die Gleichung ausgedrückten Verhältnis stehen. Also nur diese Punkten, nicht aber die krumme Linie selbst ist hier ausmessbar. Folglich haben die Alten, wie ich glaube, Recht, wenn sie dieselben nicht geometrische Linien haben nennen wollen, weil sie zwar (in den konstruirten Punkten) geometrisch, aber nicht Linien sind; sollen sie es seyn, so muß man zu der bloßen Konstrukzion der Punkten, noch ihre Verbindung durch gerade Linien hinzufügen, dieses ist aber nicht mehr geometrisch, weil die Punkte, die in diesen geraden Linien fallen, sich nicht mehr durch die Gleichung bestimmen lassen. Hier fodert uns also die Vernunft auf, daß wir die Anzahl gedachter Punkten immer vermehren bis ins Unendliche, wodurch sich diese Konstrukzion ihrem Begriffe immer nähert, und nur durch die völlige Erreichung desselben bekommen wir ein reelles Objekt a priori, welches sonst nicht möglich ist. Wird z.B. der Begriff eines Zirkels durch seine Gleichung bestimmt, so kann seine Konstrukzion nicht völlig demselben gemäs seyn. Wird aber der Begriff wie in der gemeinen Geometrie bestimmt (eine Linie, deren Punkte von einem gegebnen Punkt gleich weit sind) und man konstruirt denselben, wie gewöhnlich durch Bewegung einer Linie um einen ihrer Endpunkten, so ist diese Konstrukzion freilich vollständig, sie ist es aber nicht a priori, weil der Begriff von Bewegung selbst a posteriori ist. Es giebt also kein anderes Mittel, einen Begriff völlig a priori zu konstruiren, als ein progressus in infinitum, wie schon gezeigt worden.

Ich komme nun zur dritten Abtheilung der Hauptfrage, nämlich: wie ist Naturwissenschaft a priori möglich? Die Erklärung davon nach Herrn Kant ist diese. Die Naturwissenschaft enthält synthetische Sätze a priori; (jede Wirkung mus eine Ursache haben und dergl.) wie ist es also möglich, daß der Verstand a priori den Gegenständen der Natur a posteriori Gesetze vorschreiben soll (daß sie seinen Sätzen a priori gemäß seyn müssen?) Und da ich in Herrn Kants Auflösung dieser Frage Schwierigkeiten gefunden zu haben glaube, so sehe ich mich gezwungen, eine eigne Auflösung zu wagen. Ich behaupte erstlich mit Herrn Kant, daß Zeit und Raum Formen der Sinnlichkeit a priori sind, und daß sie nichts, was in den sinnlichen Gegenständen selbst, sondern blos unsre Art von den sinnlichen Gegenständen afficirt zu werden, enthalten: Zweytens, daß die logischen Formen des Denkens, vorausgesetzt, daß sie Realität haben, nicht von den Dingen an sich, insofern sie uns gänzlich unbekannt sind, sondern blos von ihren Erscheinungen in uns gebraucht werden können, und daß daher ihre absolute Totalität, nicht von konstitutiven sondern blos von regulativem Gebrauche seyn kann. Soweit gegen den metaphysische Dogmatism. Ich behaupte aber zugleich mit meinem szeptischen Freunde D. Hume gegen das kritische Dogmatism, daß diese logischen Formen des Denkens (indem ihr Quasigebrauch von den Gegenständen der Natur, sich aus von der Erfahrung genommenen psichologischen Gründen erklären läßt) auch von den sinnlichen Gegenständen der Natur unmittelbar keinen Gebrauch haben, sondern blos vermittelst einer vollständigen Indukzion (zu der uns immer nähern, die wir aber nie erreichen können) ihre objektive Realität bekommen können, wodurch sich ihre subjektive Realität der objektiven immer nähert, bis sie sich vereinigen. Und daß dieses Verfahren de Mathematik ist, und daß dieses in beyden auf gleicher Weise rechtmäßig ist. Ich will mich hierüber näher erklären.

Die Mathematik enthält lauter synthetische Sätze a priori, d.h., Regeln des Verstandes, die mit der Konstrukzion der Objekte selbst gegeben sind, oder genauer: Das Erkenntnisvermögen bringt die Objekte diesen Regeln gemäß hervor. Die Regeln bekommen also erst ihre Realität durch die Gegenwart der Objekte selbst. Vor ihrem Daseyn im Gemüthe konnte man nicht wissen, welchen Regeln sienach ihrer Entstehung subsumirt werden müssen. Es ist hier nicht wie mit dem analytischen Grundsatz "Ein Ding kann nicht zugleich seyn, und nicht seyn" beschaffen, wo man schon vor der Konstrukzion eines bestimmten Objekts (ein Dreieck u. dergl.) von ihm etwas mit Gewißheit behaupten kann, daß es nämlich nicht zugleich seyn und nicht seyn kann. Sie synthetische Sätze a priori haben also hierinn keinen Vorzug vor denen a posteriori, der Unterschied zwischen diesen beyden Arten bestehet blos darinn, daß nämlich in den erstern das Objekt selbst als Materie diese Sätze a priori vom Erkenntnisvermögen selbst hervorgebracht, in den Letztern hingegen a posteriori von etwas anderm gegeben ist, die Urtheile selbst aber als Formen oder Arten, diese Objekte zu denken, in beyden a posteriori sind. Der Verstand schreibt dem produktiven Einbildungsvermögen eine Regel vor, einen Raum in zwey Linien eingeschlossen, hervorzubringen; dieses gehorchte und konstruirt das Dreyeck, aber siehe, es dringen sich zugleich drey Winkel auf, die der Verstand gar nicht verlangt hatte. Nun wird er auf einmal klug, indem er die ihm bisher unbekannte Verknüpfung zwischen drey Seiten und drey Winkel einsehen lernt, deren Grund aber ihm noch bis jetzt unbekannt ist. Er macht also aus der Noth eine Tugend, indem er eine gebieterische Miene annimmt, und sagt: Ein Dreyeck muß drey Winkel habe, als wäre er hierinn selbst Gesetzgeber, da er doch in der That einem ihm gänzlich unbekannten Gesetzgeber gehorchen muß. Die objektive Nothwendigkeit dieser Sätze kann daher mit Recht bezweifelt werden, vielleicht kann irgend ein denkendes Wesen oder auch ich selbst unter gewissen Umständen ein Dreyeck mit mehr oder weniger Winkel konstruiren, da dieses an sich keinen Widerspruch enthält. Diese Nothwendigkeit ist also blos subjektiv, sie kann aber verschiedne Grade annehmen bis zum allerhöchsten Grad, (als Idee) wodurch sie zur objektiven Nothwendigkeit wird, denn der ganze Vorzug der objektiven Nothwendigkeit (dessen Gegentheil einen Widerspruch enthält) besteht bloß darinn, daß man überzeugt ist, daß es in keiner Konstrukzion, unter welchen Umständen es auch bewerkstelligt werden mag, anders seyn kann, bin ich also durch eine vollständige Indukzion überzeugt, (indem ich das Dreyeck unter allen möglichen Umständen und auch andere denkende Wesen es unter allen diesen Umständen konstruirt und so befunden haben, gesetzt, daß dieses möglich wäre) daß das Dreyeck in der Konstrukzion nicht anders als drey Winkel haben kann, so wäre es so gut, als wäre ich durch den Satz des Widerspruches davon überzeigt; da aber diese Induktzion nie vollständig seyn kann, so kann sich daher die subjektive Nothwendigkeit der objektiven zwar immer nähern, sie kann sie aber nie völlig erreichen. So ist es auch mit unsern Urtheilen über Gegenstände der Natur beschaffen. Ich bemerke, das Feuer ist warm, (daß auf die Vorstellung des Lichts oder irgend eine andre Eigenschaft des Feuers die Empfindung Wärme in mir entsteht) hier ist bloß ein Wahrnehmungsurtheil, wie Herr Kant sich ausdrückt, und kann nach mir durch keine unmittelbare Operazion des Verstandes zu einem Erfahrungsurtheil werden, wie es Herr Kant haben will. Ich bemerke eben dieses noch einmal und aber einmal u.s.w. Wodurch diese beyde Erscheinungen in mir immer fester verknüpft werden, so daß zuletzt (durch einer völligen Indukzion) diese subjektive Verknüpfung ihren höchsten Grad erreicht, und der objektiven gleich wird.

Was die letzte Frage anbetrift, nämlich: Wie ist Metaphisik möglich? so muß man erstlich bestimmen, was Metaphisik heist. Ich glaube in der Definizion der Metaphisik mit Herrn Kant übereinstimmen. Nämlich Metaphisik ist die Wissenschaft der Dinge an sich. Ich unterscheide mich von Herrn Kant blos darinn: nach Ihm sind die Dinge an sich die Substrata ihrer Erscheinungen in uns, und mit denselben ganz Heterogen, folglich muß diese Frage unaufgelößt bleiben, indem wir kein Mittel an der Hand haben, die Dinge an sich abstrahirt von unsrer Art von derselben affizirt zu werden, zu erkennen. Nach mir hingegen ist die Erkenntnis der Dinge an sich nichts anders als die vollständige Erkenntnis der Erscheinungen. Die Metaphisik ist also nicht eine Wissenschaft von etwas ausser der Erscheinung, sondern blos von den Gränzen (Ideen) der Erscheinungen selbst, oder von den letzten Gliedern ihrer Reihen. Nun sind zwar diese als Objekte unsrer Erkenntnis unmöglich, sie sind aber mit den Objekten so genau verknüpft, daß ohne sie keine vollständige Erkenntnis von den Objekten selbst möglich ist. Wir nähern uns immer zu ihrer Erkenntnis nach dem Grade der Vollständigkeit unsrer Erkenntnis der Erscheinungen. Da ich aber dieses alles in meinem Versuche selbst umständlich ausgeführt zu haben glaube, und hier Ihrem Wunsche gemäß blos die Hauptpunkte bestimmen wollte, so werde ich hiemit abbrechen, und verbleibe Ihr eifrigster Freund.

S. Maimon

 

(1) Mais je m’etonne de ce qu’ils n’ont point cela distingué divers degrez entre ces lignes plus composés, & je ne sçaurois comprendre, pourquoi ils les ont nommes mechaniques plûtôt que geometriques. Car de dire que ç`ait étté a cause qu`il est besoin de se servir de quelque machine pour les decrire il fauderoit rejetter par même raison les cercles et les lignes droites. vû qu’on ne les decrit sur le papier qu’avec un Compas et un Regle qu’on peut aussi nommer de Machines. Mais il est ce me semble tres clair que prenant comme en fait pour geometrique ce qui est précis et exact, & pour mechanique ce qui ne l’est pas, et considerant le geometrie comme un science, qui enseigne generalement a connoitre les mesures de touts les corps on n’en doit pas plûtôt exclure les lignes le plus composées que les plus simples, pourvû qu’on les puisse imaginer être decrites par un mouvement continu, ou par plusieurs qui s’entresuivent, et dont les derniers soient reglés par ceux qui les precedent, car par ce mojen on peut toujours auoir une connoissance exacte de leur mesure. Descartes geometrie, Liv. II. sect. 2. (zurück)