Salomon Maimon`s Geschichte seiner philosophischen Autorschaft in Dialogen.
Aus seinen hinterlassenen Papieren.

 

In: Neues Museum der Philosophie und Litteratur. 1804. Bd. II, 139-156. [GW VII, 627-648]

 

Der Verfasser und der Recensent.

Verfasser.
Ehe sie zur Beurtheilung meines Buchs schreiten, erlauben Sie gütigst, daß ich Ihnen die Geschichte meiner Schriftstellerei, in so weit ich es zu diesem Behuf für nöthig erachte, vorlegen darf.

Recensent:
Wozu das? Haben Sie etwas Neues und Gutes geliefert, so Ihnen der Recensent auch ohne dieses Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wo nicht, so kann Ihnen [628] dieses zu nichts helfen. Wahrheit muß aus objectiven Gründen beurtheilt werden; und so wenig Geburt, als Erziehung und sonstige Verhältnisse des Verfassers können hier in Betracht kommen.

Verfasser.
Im Allgemeinen haben Sie ganz Recht. Doch werden Sie hoffentlich eingestehen müssen, daß es Fälle geben kann, wo dieses zur Verhütung aller Mißverständnisse, und als eine Anweisung des wahren Gesichtspunkts der Beurtheilung nothwendig wäre; und daß der Verfasser selbst sich eben in einem solchen Falle befinde, soll Ihnen aus der Geschichte selbst zur Genüge erhellen.

Recensent.
Wenn dem so ist, so muß Ihnen freilich der Recensent hierin willfahren. Aber machen Sie es kurz und gut!

Verfasser.
So kurz und gut, als mir möglich seyn wird. Also zur Sache! Der Verfasser ist ein Mann von jüdischer Nation!

Recensent.
Diesen Umstand, glaube ich, konnten Sie mit gutem Fug weglassen. Wir sind, Gott Lob! in unsern aufgeklärten Zeiten über Religionsvorurtheile hinweg. Wir lassen dem Juden als Schriftsteller eben die Gerechtigkeit widerfahren, die wir einem christlichen Schriftsteller widerfahren lassen. Sind nicht Mendelssohns Schriften unpartheiisch beurtheilt, und gehörig gewürdigt worden? [629]

Verfasser.
Ueber das Factum mag ich mit Ihnen nicht streiten. Doch bitte ich, zu bemerken, daß erstlich Mendelssohn zu einer, zu seiner Zeit herrschenden Partei gehörte, zweitens daß er in seinen Schriften das Utile mit dem Dulci vortrefflich zu verbinden wußte; drittens, daß er sehr politisch war, und mit gewissen Personen und Sachen sehr säuberlich umging; welches Alles bei gegenwärtigem Verfasser der Fall nicht seyn möchte.

Recensent.
Nun gut! Von jüdischer Nation!

Verfasser.
Aus Lithauen in Polen gebürtig. Nehmlich von einer Colonie dieser Nation, die zu Zeiten der Religionsverfolgung aus Deutschland verjagt wurde und in Polen einen Zufluchtsort fand, wie dieses aus ihrer Sprache zu ersehen ist, deren Grundlage bei ihrer Verdorbenheit und Vermischung mit den orientalischen sowol, als mit den slavischen Sprachen, die deutsche Sprache ist. Wobei die edlen Polen, die ihnen diesen Zufluchtsort eingeräumt hatten, auch ihre Rechnung fanden. Denn die wenige Industrie, Handel und Gewerbe, die in Polen anzutreffen sind, hat das Land einzig und allein dieser Colonie zu verdanken. Die übrigen Einwohner sind entweder die ursprünglichen Besitzer des Landes, die eigentlichen Polen, Herren, die nichts zu thun brauchen, oder, wie aus ihren Namen und vielen Wörtern ihrer Sprache zu ersehen ist, griechi[630]sche Sclaven, die einzig und allein zum Feldbau verdammt sind. (1)

Recensent.
Wozu diese Umständlichkeiten?

Verfasser.
Damit sie die Muttersprache des Verfassers kennen lernen. Sie ist, wie es sich leicht aus dem Vorhergehenden ergiebt, ein Gemisch aus der hebräischen, griechischen, deutschen und slavonischen Sprache; so, daß die Grundwörter der einen Sprache nicht selten in ihrer Zusammensetzung den Regeln der andern Sprache, und zuweilen gar keinen Regeln folgen. Man kann sich also leicht denken, wie wenig eine solche Sprache zum Ausdrucke völlig bestimmter Begriffe geschickt ist, und wie man nur durch Hypothesen und Versuche den Sinn einer Rede nach und nach enträthseln kann; und wie eine solche Sprache zum wissenschaftlichen Vortrag, wo Alles auf deutliche und völlig bestimmte Begriffe ankommt, gänzlich untauglich ist.

Recensent.
Traurig genug! [631]

Verfasser.
Ob schon die Fortschritte oder Hindernisse in der Cultur der Sprache mit den Fortschritten oder Hindernissen in der Cultur der Wissenschaften immer in gleichem Verhältnisse stehen, indem sie wechselseitigen Einfluß auf einander haben; so ist doch bei dieser Nation diese als Ursache, und jene als Folge zu betrachten. Sie hat die Cultur der Sprache vernachlässiigt, weil sie die Cultur der Wissenschaften vernachlässiigt hat. Diese Vernachlässiigung aber hat in ihren Religionsbegriffen ihren Grund, nach welchen alle Profanen (aus der Natur des Erkenntnißvermögens und seinen Verhältnisse zu den Objecten der Erkenntniß zu bestimmenden) Wissenschaften für unnütz erklärt, und die Cultur einer einzigen sogenannten Wissenschaft, nemlich die ihrer Religionsgesetze, ihr zur Pflicht gemacht wurde; welche Wissenschaft so wenig völlig bestimmte Begriffe und aus denselben unmittelbar hergeleitete Grundsätze, als sichere Methoden, nach welchen alles Uebrige aus diesen ersten Grundsätzen hergeleitet werden könne, voraussetzt. Die Mängel dieser Wissenschaft stimmen also mit den Mängeln der Sprache, worin sie vorgetragen wird, wohl zusammen: wie dieses in der Folge noch mehr erhellen wird. Was aber die Erziehung des Verfassers anbetrifft, so war diese –

Recensent.
Allem Vermuthen nach, höchst elend. [632]

Verfasser.
Nicht so übereilt, Herr Recensent! Sowohl die allgemeine, als die besondre Erziehung des Verfassers war, wider alles Vermuthen, mehr gut als schlecht.

Recensent.
Was verstehen Sie unter allgemeiner und besondrer Erziehung?

Verfasser.
Unter der allgemeinen Erziehung verstehe ich die Erziehung eines jeden besondern Menschen zum Menschen überhaupt, die theils in Wegräumung der Hindernisse, theils auch in Anwendung der Beförderungsmittel zur Entwickelung aller menschlichen Fähigkeiten und natürlichen Anlagen besteht; ohne auf den Unterschied der Subjecte Rücksicht zu nehmen. Wo die Natur mehr eingewickelt hat, kann freilich die Cultur auch mehr entwickeln; aber der Zweck dieser allgemeinen Erziehung geht bloß darauf, so viel oder so wenig zu entwickeln, als sich entwickeln läßt. Der dadurch bestimmte Unterschied der Subjecte ist nicht Folge dieser Erziehung, sondern der Natur selbst. Diese scheint die einzige Erziehungsart zu seyn, worauf die neuere Pädagogik Rücksicht nimmt. Unter der besondern Erziehung aber verstehe ich die Erziehung eines jeden besondern Menschen zu dem, wozu er nach seinen besondern natürlichen Anlagen von der Natur bestimmt zu seyn scheint. Es werden diesem zu Folgen, nicht alle natürlichen Anlagen in gleichem Verhältnisse entwickelt. Der Erzieher richtet [633] hauptsächlich sein Augenmerk auf die hervorstechenden, sich auf eine merkliche Art auszeichenden darunter, denen alle übrigen ach diesem Erziehungsplane subordinirt werden. Er vertritt gleichsam die Stelle der Natur, und macht ihren Zweck zu dem seinigen. Der Unterschied dieser beiden Erziehungsarten in Ansehung ihrer Folgen, ist offenbar. Die allgemeine Erziehung ist für solche Subjecte, die in ihren natürlichen Anlagen nichts Auszeichnendes haben, die beste. Für solche hingegen, die die Natur zu besondern Zwecken auserwählt, und vorher bestimmt zu haben scheint, ist ohne Zweifel die besondere Erziehung die vorzüglichste. Jene macht den Menschen geselliger, diese aber macht ihn brauchbarer. Ob dieser oder jener Mensch mehr durch die allgemeine oder durch die besondere Erziehung gewinne (vollkommener würde), ist zuweilen sehr zweifelhaft. Die Menschheit aber wird gewiß immer durch diese mehr, als durch jene, gewinnen (Fortschritte zur Vollkommenheit machen).

Recensent.
Wie ging es nun hierin dem Verfasser?

Verfasser.
Was die moralische Erziehung des Verfassers anbetrifft, so war diese zum Theil gut, zum Theil schlecht. Ich verstehe unter moralischer Erziehung nicht die Erziehung zur Moralität (zur Bestimmung des Willens nach dem praktischen Vernunftgesetze), weil Erziehung zur Moralität in der That Moralität unmöglich machen würde. [634] Wer aus Gewohnheit und nach dem Beispiele Anderer dem Moralgesetze gemäß handelt, kann eben darum nicht durch das Gesetz in der Handlung bestimmt seyn. Ich verstehe also unter moralischer Erziehung 1) bloß Erziehung zur Legalität; 2) zur Zweckmäßigkeit in den Handlungen; 3) zur freien Entwickelung der Kräfte als Zweck an sich betrachtet. Der Verfasser war nun frühzeitig genug auf das Moralgesetz aufmerksam gemacht, und durch Belohnungen und Strafen zur Legalität angeführt. So weit ging es gut. Dagegen wurde er in Ansehung der zur Zweckmäßigkeit erforderlichen Klugheit fast gänzlich vernachlässiigt und in der freien Ausübung der Kräfte sehr beschränkt.

Recensent.
Erklären Sie mir, wie es damit zugegangen seyn mag.

Verfasser.
Ganz natürlich. Klugheit setzt nicht nur die Ueberzeugung von dem allgemeinen Grundsatze: Nichts ohne zureichenden Grund, sondern auch die Einsicht in die besondern Verhältnisse der Dinge als Grund und Folge von einander, voraus. Woher soll aber die Klugheit kommen bei Menschen, denen nicht nur, wegen Mangel an Kenntnissen und Wissenschaften, diese Einsicht in Verhältnisse besonderer Dinge, als Mittel und Zweck, größtentheils mangelt, sondern die nicht einmal jenen Grundsatz in seiner Allgemeinheit zugeben, und glauben, daß es Natur[635]erscheinungen geben kann, die keinen zureichenden Grund in der Natur haben; und eine jede Naturerscheinung, deren Ursache sie nicht kennen, für eine unmittelbare Wirkung des göttlichen Willens, oder der ihm untergeordneten, auf die Natur wirkenden, guten und bösen Geister, erklären: denen psychologische Kenntniß der Motive menschlicher Handlungen (die, um auf Menschen zweckmäßig zu wirken, höchst nothwendig ist) noch weniger zu Theil geworden ist; und die der reinen, positiven, moralischen Freiheit (möglichen Bestimmung des Willens durch Vernunft) die empirische negative, psychologische Freiheit (absoluter Determinismus) unterschieben? Eine solche Erziehung ist, wenn auch nicht der Moralität, doch derjenigen Sittlichkeit, die die Klugheit fordert (sich in andre Menschen zu schicken) und der davon abhängigen Glückseligkeit höchst hinderlich.

Recensent.
Diese Hindernisse können aber durch Erwerbung richtigerer Begriffe und Grundsätze, und mehrerer Kenntnisse aus dem Weg geräumt und ihre Folgen verhütet werden.

Verfasser.
Ja, wenn dieses frühzeitig genug geschieht! Sind hingegen jene falsche Vorstellungen durch lange Gewohnheit schon tief eingewurzelt und gleichsam in Empfindungen übergegangen, so ist man durch die nachher erlangte richtigere Kenntniß desto mehr unglücklich. Man ist in beständigem Streit und in Unzufriedenheit mit sich selbst. Man hadert [636] beständig theil mit sich selbst, theils mit dem Zufalle oder der Vorsehung, nachdem man jenen oder diese als Ursache des nun unabänderlichen Uebels betrachtet; und der Contrast zwischen sich selbst und andern nicht mit besseren Anlagen von der Natur begabten, aber glücklichern Menschen, erhöhet noch das unangenehme Gefühl um Vieles; besonders wenn diese (wie es mehrentheils zu geschehen pflegt), theils unwissend, theils ungerecht in ihrem Urtheile sind, die durch unmerkliche Stufen fortschreitende Entwickelung des Menschen entweder nicht zu bemerken, oder nicht bemerken wollen, welches sie von Andern nach und nach auf eine unvermerkte Art erlangt haben (ihre Muttersprache z.B., wie auch gewisse mechanische Operationen, z.B. Schreiben, und gewisse körperliche Bewegungen – wie Tanzen u. s. w.), scheint ihnen ganz leicht zu seyn, und sie können sich nicht genug verwundern, wenn ein Erwachsener das entweder gar nicht, oder sehr schwer erlernen kann, was sie in ihrer Kindheit so leicht erlernt haben. – Doch davon Mehreres.

Recensent.
Wie ist es nun mit der Entwickelung der Anlagen des Verfassers zugegangen?

Verfasser.
Seine physische Erziehung (die auf Erlangung gewisser körperlicher Geschicklichkeiten abzielt) wurde gänzlich vernachlässiigt. Sie erhielt eine sogenannte gelehrte Erziehung; die sich aber bloß auf die, seiner Nation eigen[637]thümliche Gelehrsamkeit einschränkte; wodurch, ob zwar auf eine sehr unvollkommene Art, seine höhere Erkenntnißvermögen in Ausübung gesetzt wurden. Von Wissenschaften hatte er durch besondere Zufälle manche dunkle Vorstellungen; so erhielt er z.B. von den mathematischen Wissenschaften einige verworrene und unzusammenhängende Erkenntniß. Er glaubte Sätze mit dem Verstande zu begreifen, von welchen bloß die Einbildungskraft die Wahrheit vorher sehen ließ; welches auch, wie die Veranlassung dazu war, nicht anders seyn konnte; da ihm der Zufall z.B. ein altes astronomisches Werk in die Hände lieferte, ehe er noch einen Euklid, oder ein ähnliches Werk der Elementar-Geometrie zu Gesicht bekam; und selbst dasjenige, welches er zufälliger Weise erhielt, waren nicht etwa Lehrbücher, sondern mehrentheils Abhandlungen, die schon die Bekanntschaft mit jenen voraussetzen; Fragmente, oder bei Gelegenheit der Bibelauslegung gegebne Winke und Anspielungen auf gewisse Erkenntnisse; die beim Leser schon vorausgesetzt werden, und selbst dieses in schlechten Uebersetzungen aus dem Arabischen, worin jene Schriften abgefaßt wurden, in`s Hebräische, eine Sprache, die zu arm ist, um zu einem wissenschaftlichen Vortrag gebraucht werden zu können; und von Werken des Geschmacks hatte er bis in sein reiferes Alter nicht den mindesten Begriff.

Recensent.
Wie ist er doch endlich zur wissenschaftlichen Erkenntniß gelangt? [638]

Verfasser.
Die besondern Veranlassungen und Mittel dazu können Sie aus des Verfassers Lebensgeschichte zur Genüge ersehen. Der Verfasser will sich hier bloß auf die besondern Methoden einschränken, die er zu diesem Behuf hat ergreifen müssen. Nachdem er in seinem Vaterlande seine besten Kräfte in beständigem Kampfe mit Mangel und Hindernissen verschwendet und eine lange Zeit nach wissenschaftlicher Erkenntniß vergebens geschmachtet hatte, kam er endlich in seinem acht und zwanzigsten Jahre nach Deutschland, in einem Alter, wo man vor Ungeduld, den lang erwünschten Zweck zu erreichen, die Mittel zu vernachlässigen pflegt. Er lernte daher Deutsch schreiben und lesen, nicht auf die gewöhnliche Art, sondern geniemäßig durch eine Art des Dechiffrirens. Eben so rasch nach seinem festgesetzten Plane und keiner bestimmten Ordnung schritt er zum Studium der Wissenschaften. Er eilte zu den Hauptwissenschaften, und vernachlässigte die Hülfswissenschaften; und erst dann, wann er bemerkte, daß er in jenen ohne diese nicht weiter fortkommen konnte, nahm er den Rückweg von jenen zu diesen. So mußte er z.B. von der Metaphysik zur Logik, von der angewandten Mathematik zur reinen, zurück gehen, u. d. g.; und auf diese Art nach und nach immer seinem Wunsche näher kommen.

Recensent.
Dieses rasche und einigermaßen gewaltsame Verfahren, Erkenntniß nicht durch eine Art von Capitulation zu erhal[639]ten, sondern gleichsam mit Sturm zu erobern, mußte in dem Verfasser selbst große Erschütterungen, und in seinem Gedankensystem wichtige Revolutionen hervorbringen.

Verfasser.
Allerdings. Der Verfasser glaubt drei Haupt-Epochen dieser Revolution angeben zu können, die durch drei wichtige Lehren, die er zu verschiedenen Zeiten von drei großen Männern erhalten hat, in ihm verursacht worden sind. Von Maimonides hat er den Unterschied zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Ausdruck in der Sprache gelernt, und, daß man diejenigen Stellen der heiligen Schrift, deren eigentlicher Sinn der Vernunft zuwider ist, in figürlichem Sinne nehmen muß. Dieses verursachte bei ihm eine sehr wichtige Revolution; indem durch diese Ausgleichung zwischen Vernunft und Glauben, jene von den Banden, welche dieser ihr auflegt, befreiet wurde. Die Vernunft konnte nun ungehindert ihren Weg zur Vollkommenheit fortgehen und der Glaube immer vernünftiger werden. Diese Revolution betraf also hauptsächlich seine Religionsbegriffe. Von Wolf hat er den formellen Unterschied der Begriffe (dunkle, klare, deutliche u. s. w.) gelernt. Dieses zündete ein neues Licht in seinem Gedankensysteme an. Nun entdeckte er erst, daß von dem ganzen Vorrath von Begriffen, die er bisher gesammelt hatte, fast kein einziger die Erfordernisse zu einem ausführlich deutlichen Begriff hatte; welchen Mangel er durch solche Erklärungen zu ergänzen suchte, die den Begriffen diese [640] formelle Vollkommenheit verschaffen. Freilich waren solche Erklärungen, aus Mangel an genauer Sprachkenntniß, nicht selten willkührlich und nicht dem Sprachgebrauche gemäß. Endlich von Kant hat er gelernt den Unterschied zwischen bloß formeller und reeller Erkenntniß, und daß jene nicht hinreichend ist, diese zu bestimmen. Dieß hatte den negativen Vortheil, die durch bloße Erklärungen bestimmte vermeintliche reelle Erkenntniß auf Bedingungen einer möglichen Construction einzuschränken.

Recensent.
Trieb nicht der Verfasser die gedachten Lehren weiter, als es die Absicht ihrer Urheber gewesen seyn mag?

Verfasser.
Allerdings. Die sogenannte Harmonie zwischen Glauben und (theoretischer) Vernunft ist seiner Meinung nach, nichts anders, als die gänzliche Aufhebung des erstern durch die letztere. (2) Wenn z.B. der transscendente Begriff von Sprachen nichts mehr enthält, als: Ursache seyn, von der Entstehung gewisser Vorstellungen in einem Andern; und Gott, als ein reiner Geist, keine Sprachorgane haben, noch in eigentlicher Bedeutung spre[641]chen kann; so kann der Ausdruck: Gott sprach zum Moses, nichts anders heißen, als: Es entstanden im Moses Vorstellungen (durch Mittelbarsuchen, die die Vernunft nicht wegzudenken zugiebt), deren erste Ursache Gott, d.h. die erste Ursache aller Dinge, war. Auf diese Art aber spricht Gott zu jedem Menschen; was bleibt nun hier dem Glauben an das Besondre dieses Sprechens übrig?

Die Definitionswuth ging beim Verfasser anfangs sehr weit. Alles, selbst die allerbekanntesten Dinge mußten definirt werden, welche Wuth aber nachher (durch die Kantische Epoche) ziemlich nachließ.

Recensent.
Aber die dritte Lehre, sollte man denken, kann nicht weiter getrieben werden; und da der Verfasser den Unterschied zwischen bloß formeller und reeller Erkenntniß eingesteht, indem sich jene auf ein, seinem Inhalt nach, unbestimm[t]es Object überhaupt, diese aber auf ein bestimmtes (a priori oder a posteriori gegebenes) Object bezieht; so kann durch jene einem gegebenen Object, nichts anders, als dasjenige analytisch (das vermöge der Form Allgemeine, das auch in jedem Besondern angetroffen werden muß,) beigelegt werden, was einem Objekte überhaupt zukommen muß, durch diese hingegen wird es synthetisch (durch die nothwendige Verknüpfung der beizulegenden Eigenschaften mit dem, seinem Inhalte nach bestimmten Wesen,) bestimmt. Nun giebt es aber außer der Form des Denkens, nichts anders, wodurch ein Object seinem Inhalte nach bestimmt werden [642] kann, als Anschauung. Mögliche Anschauung ist also die materielle Bedingung eines reellen Objects überhaupt.

Verfasser.
Der Verfasser glaubt, daß damit das Geschäft einer Kritik des Erkenntnißvermögens noch bei weitem nicht vollendet sey. Die Frage ist hier nach einem synthetischen Grundsatze aller synthetischen Erkenntniß. Nun ist aber mögliche Construction (Darstellung in einer möglichen Anschauung) kein synthetischer Grundsatz, wodurch neue synthetische Erkenntniß bestimmt werden kann, sondern bloß die allgemeine Bedingung der Möglichkeit synthetischer Erkenntniß überhaupt. So wenig die Vorstellung des Raumes, als Bedingung aller geometrischen Objecte, einen synthetischen Grundsatz abgiebt, wodurch die Erkenntniß dieser Objecte erweitert werden kann, indem die Vorstellung des Raumes überhaupt eine zwar materielle, aber dennoch bloß analytische Bedingung ist (in einem jeden bestimmten Raume muß Raum überhaupt enthalten seyn), die Axiome und Postulate aber, die eigentliche Grundsätze der Geometrie sind, durch deren mannigfaltige Verbindung diese Wissenschaft erweitert wird: eben so ist mögliche Anschauung überhaupt kein synthetischer Grundsatz, sondern eine analytische Bedingung einer jeden gegebenen Anschauung. Eben so ist der Grundsatz aller empirischen Erkenntniß: Mögliche Erfahrung (nothwendige Verknüpfung der Erscheinungen), kein synthetischer, sondern ein analyti[643]scher, ja sogar identischer Grundsatz. Soll Erfahrung d.h. Erkenntniß einer nothwendigen Verknüpfung der Erscheinungen möglich seyn, so muß diese nothwendige Verknüpfung nach irgend einer logischen Form hinzugedacht werden. Es sieht also mit dergleichen Grundsätzen sehr übel aus. Sie sind bloß darum absolut nothwendig und allgemein gültig, weil sie identisch sind, und also gar nichts sagen.

Recensent.
Da aber doch der Verfasser eingestehen muß, daß wir im Besitze synthetischer Erkenntnisse sind, so muß er doch diese, wenn auch nicht als Grundsätze zur Erweiterung der Erkenntnißgründe zur Begründung derselben zugeben.

Verfasser.
Dieses Factum, (daß wir im Besitze synthetischer Erkenntnisse sind) hat in Ansehung synthetischer Erkenntnisse a priori (der Mathematik) allerdings seine Richtigkeit. Auch kann der Erkenntnißgrund (die materielle Bedingung der Möglichkeit dieser Erkenntnisse) durch mögliche Construction nicht geleugnet werden. In Ansehung der empirischen Erkenntnisse (der Naturerscheinungen) hingegen ist mögliche Erfahrung nicht nur, wie schon bemerkt worden, an sich tautologisch, sondern auch, weil das Factum (daß wir im Besitze nothwendiger empirischer Erkenntisse sind), nach D. Hume bezweifelt werden kann, von gar keinem Gebrauche. [644]

Recensent.
Da aber der Verfasser die Unentbehrlichkeit einer Kritik des Erkenntnißvermögens überhaupt zugesteht, so wünschte ich zu wissen die Art, wie er diese Mängel der Kantischen Kritik durch seine eigene zu verbessern sucht?

Verfasser.
Er geht in seiner Kritik ebenfalls von der Frage aus: Wie sind synthetische Sätze möglich? die aber nicht, wie in der Kantischen Kritik, in folgenden zweien Fragen: Wie sind synthetische Sätze a priori: wie sind synthetische Sätze a posteriori, möglich, (weil er das Factum in Ansehung der zweiten Frage bezweifelt) sondern in andern zweien Fragen: Wie sind synthetische Sätze a priori, wodurch die Möglichkeit der Objecte (z.B. Raum kann in drei Linien aber nicht in zwei eingeschlossen werden) bestimmt wird; und: wie sind synthetische Sätze a priori, wodurch den möglichen Objecten Prädicate, die in ihrer Construction unmittelbar nicht erkannt (z.B. daß die Summe der Winkel in einem Dreiecke zweien Rechten gleich ist), beigelegt werden, möglich? Objecte a priori werden durch synthetische Urtheile, wodurch die mögliche Verknüpfung in der Anschauung erkennbarer Merkmale bestimmt wird (z.B. durch das Urtheil: Raum kann in drei Linien eingeschlossen seyn, wird das Dreieck als ein mögliches Object a priori bestimmt) erkannt, und umgekehrt die an sich schon erkannten möglichen Objecte bestimmen wiederumm neue Urtheile (worin sie als Subjecte vorkommen.) Die [645] erste Frage ist also: Was ist das als Grundsatz aufzustellende allgemeine Kriterium, nicht eben der materiellen Wahrheit, wovon ein allgemeines Kriterium unmöglich ist, sondern bloß der Möglichkeit der ersten Urtheile? Daß z.B. Raum nicht in zwei, wohl aber in drei Linien eingeschlossen werden kann, kann nicht nach irgend einem allgemeinen Kriterium beurtheilt werden, weil die materielle Wahrheit dieses Satzes in dem Besondern dieser Vorstellungen gegründet ist, wovon ein allgemeines Kriterium einen Widerspruch enthält. Daß aber überhaupt Raum von Linien, es mögen seyn zwei oder mehrere, begrenzt werden kann, und daher eine geometrische Figur überhaupt möglich ist, und daß dem Raum das Prädiakt der Süßigkeit nicht zukommen kann, und also ein süsses Dreieck unmöglich ist; davon kann und muß sich allerdings ein allgemeines Kriterium der Beurtheilung angeben lassen. Was ist nun dieses Kriterium? Diese Frage beantwortet der Verfasser dadurch, daß er den Satz der Bestimmbarkeit als ein solches Kriterium aufstellt. (S. Maimon`s Logik und kritische Untersuchungen u. s. w.) Die zweite Frage ist: Wie können Sätze sich auf ein Object beziehen, deren Wahrheit nicht unmittelbar durch die Construction des Objects erkannt wird? Die Antwort auf diese Frage ist: durch eine mögliche Reduction, indem man eben dieselben gegebenen Stücke als in verschiedenen Objecten zugleich enthalten, betrachtet, und die gesuchten Stücke von den Objecten, worin sie gegeben, auf die, worin sie gesucht werden, überträgt. So wenig aus dem Be[646]griffe, als der Construction eines gleichschenklichten Dreiecks, kann unmittelbar hergeleitet werden, daß die Winkel an der Basis einander gleich sind, sondern bloß vermittelst einer Reduction, nach welcher der, der Basis gegenüberliegende Winkel als in dem gegebenen gleichschenklichten Dreiecke und auch zugleich der gleiche Winkel in zweien Dreiecken, dessen einschließende Seiten (einzeln genommen) in beiden gleich sind, betrachtet wird, und die in diesen bekannten gleichen Stücke auch in diesem gleichschenklichten Dreieck dadurch als gleich erkannt werden. Durch den Grundsatz der Bestimmbarkeit wird die allgemeine materielle Bedingung der Möglichkeit einer Materie überhaupt; durch den einer möglichen Reduction aber, die der gegebenen Materie zukommende Form (wo dieses unmittelbar nicht angeht) a priori bestimmt.

Recensent.
Wie es scheint, fordert der Verfasser zu dem von Kant aufgestellten Grundsatz aller synthetischen Erkenntniß a priori: mögliche Construction noch einen andern Grundsatz. Wo soll man nun mit dieser Forderung aufhören?

Der Verfasser.
Da Kant kein allgemeines Kriterium angegeben hat, nach welchem man vor der wirklichen Construction, von ihrer Möglichkeit urtheilen kann, so kann diese Möglichkeit bloß durch die Wirklichkeit erkannt werden, die in Ansehung [647] der, ihr zu subsumirenden empirischen Objecte, allerdings a priori gilt; an sich aber ist diese Möglichkeit nicht a priori vor der mathematischen Wirklichkeit erkennbar. Nun aber kann das Factum nicht geläugnet werden, daß wir im Besitze synthetischer Erkenntnisse sind, die sich auf die Möglichkeit einer Construction streng a priori, vor ihrer Wirklichkeit beziehen. Die mögliche Construction eines gleichseitigen Dreiecks z.B. erkennen wir bloß durch ihre Wirklichkeit, so wie die unmögliche Construction eines rechtwinklichten gleichseitigen Dreiecks durch Aufhebung einer dieser entgegengesetzten Construction. Daß aber dennoch das letztere so wie das erstere ein, wenigstens in so fern reelles Object ist, als ihm als Subjecte ein (wenn auch verneinendes) Prädicat synthetisch beigelegt werden kann; da hingegen ein tugendhaftes Dreieck z.B. von uns unmittelbar (ohne erst seine, oder die ihm entgegengesetzte Construction zu versuchen) für ein bloß logisches (indem es keinen Widerspruch enthält) aber nicht für eine reelles Object erkannt wird, beruhet nicht auf der Wirklichkeit (die in beiden Fällen nicht Statt findet), sondern auf dem Grundsatze der Bestimmbarkeit. Sowohl gleichseitig, als ungleichseitig, sowohl rechtwinklich als schiefwinklich, sind mögliche Bestimmungen des Dreiecks, nur, daß gleichseitig und rechtwinklich einander in eben derselben Construction aufheben. Dahingegen ist so wenig Tugend, als Laster, eine mögliche Bestimmung des Dreiecks. Ein gleichseitiges Dreieck ist z.B. eine positive; ein rechtwinklichtes ebenfalls eine positive, jener entgegengesetzte Größe. Zusammen genommen machen sie ein [648] Nihil negativum aus. Ein tugendhaftes Dreieck aber ist ein Nihil privativum. Der Satz der Bestimmbarkeit ist also der höchste Grundsatz, wodurch die mögliche Construction a priori, vor ihrer Wirklichkeit, bestimmt wird.

(1) Die Ur-Einwohner von Lithauen sind Letten; Stammesverwandte der Letten in Liefland und der vormaligen Preußen. Nachkommen dieser Letten sind die Bauern oder Leibeigenen in Littauen. Der Adel oder der Stand der heutigen Guterbesitzer daselbst ist Polnisch. Anmerk. des Herausgebers. zurück

(2) Aus dem Zusammenhange sieht man zwar, wer nicht flüchtig lieset, deutlich genug, daß der Verfasser nur vom Offenbarungsglauben spricht. Aber es that doch vielleicht Noth, aufmerksam darauf zu machen. Anmerk. des Herausg. zurück