Salomon Maimon`s Geschichte seiner philosophischen Autorschaft in Dialogen.
Aus seinen hinterlassenen Papieren.
In: Neues Museum der Philosophie und Litteratur. 1804. Bd. II, 139-156. [GW VII, 627-648]
Der Verfasser und der Recensent.
Verfasser.
Ehe sie zur Beurtheilung meines Buchs schreiten, erlauben Sie gütigst, daß
ich Ihnen die Geschichte meiner Schriftstellerei, in so weit ich es zu diesem
Behuf für nöthig erachte, vorlegen darf.
Recensent:
Wozu das? Haben Sie etwas Neues und Gutes geliefert, so Ihnen der Recensent
auch ohne dieses Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wo nicht, so kann Ihnen [628]
dieses zu nichts helfen. Wahrheit muß aus objectiven Gründen beurtheilt
werden; und so wenig Geburt, als Erziehung und sonstige Verhältnisse des
Verfassers können hier in Betracht kommen.
Verfasser.
Im Allgemeinen haben Sie ganz Recht. Doch werden Sie hoffentlich eingestehen
müssen, daß es Fälle geben kann, wo dieses zur Verhütung aller
Mißverständnisse, und als eine Anweisung des wahren Gesichtspunkts der
Beurtheilung nothwendig wäre; und daß der Verfasser selbst sich eben in einem
solchen Falle befinde, soll Ihnen aus der Geschichte selbst zur Genüge
erhellen.
Recensent.
Wenn dem so ist, so muß Ihnen freilich der Recensent hierin willfahren. Aber
machen Sie es kurz und gut!
Verfasser.
So kurz und gut, als mir möglich seyn wird. Also zur Sache! Der Verfasser
ist ein Mann von jüdischer Nation!
Recensent.
Diesen Umstand, glaube ich, konnten Sie mit gutem Fug weglassen. Wir sind,
Gott Lob! in unsern aufgeklärten Zeiten über Religionsvorurtheile hinweg. Wir
lassen dem Juden als Schriftsteller eben die Gerechtigkeit widerfahren, die wir
einem christlichen Schriftsteller widerfahren lassen. Sind nicht Mendelssohns
Schriften unpartheiisch beurtheilt, und gehörig gewürdigt worden? [629]
Verfasser.
Ueber das Factum mag ich mit Ihnen nicht streiten. Doch bitte ich, zu
bemerken, daß erstlich Mendelssohn zu einer, zu seiner Zeit herrschenden Partei
gehörte, zweitens daß er in seinen Schriften das Utile mit dem Dulci
vortrefflich zu verbinden wußte; drittens, daß er sehr politisch war,
und mit gewissen Personen und Sachen sehr säuberlich umging; welches Alles bei
gegenwärtigem Verfasser der Fall nicht seyn möchte.
Recensent.
Nun gut! Von jüdischer Nation!
Verfasser.
Aus Lithauen in Polen gebürtig. Nehmlich von einer Colonie dieser
Nation, die zu Zeiten der Religionsverfolgung aus Deutschland verjagt wurde und
in Polen einen Zufluchtsort fand, wie dieses aus ihrer Sprache zu ersehen ist,
deren Grundlage bei ihrer Verdorbenheit und Vermischung mit den orientalischen
sowol, als mit den slavischen Sprachen, die deutsche Sprache ist. Wobei die
edlen Polen, die ihnen diesen Zufluchtsort eingeräumt hatten, auch ihre
Rechnung fanden. Denn die wenige Industrie, Handel und Gewerbe, die in Polen
anzutreffen sind, hat das Land einzig und allein dieser Colonie zu verdanken.
Die übrigen Einwohner sind entweder die ursprünglichen Besitzer des Landes,
die eigentlichen Polen, Herren, die nichts zu thun brauchen, oder, wie aus ihren
Namen und vielen Wörtern ihrer Sprache zu ersehen ist, griechi[630]sche Sclaven,
die einzig und allein zum Feldbau verdammt sind. (1)
Recensent.
Wozu diese Umständlichkeiten?
Verfasser.
Damit sie die Muttersprache des Verfassers kennen lernen. Sie ist, wie
es sich leicht aus dem Vorhergehenden ergiebt, ein Gemisch aus der hebräischen,
griechischen, deutschen und slavonischen Sprache; so, daß die Grundwörter der
einen Sprache nicht selten in ihrer Zusammensetzung den Regeln der andern
Sprache, und zuweilen gar keinen Regeln folgen. Man kann sich also leicht
denken, wie wenig eine solche Sprache zum Ausdrucke völlig bestimmter Begriffe
geschickt ist, und wie man nur durch Hypothesen und Versuche den Sinn einer Rede
nach und nach enträthseln kann; und wie eine solche Sprache zum
wissenschaftlichen Vortrag, wo Alles auf deutliche und völlig bestimmte
Begriffe ankommt, gänzlich untauglich ist.
Recensent.
Traurig genug! [631]
Verfasser.
Ob schon die Fortschritte oder Hindernisse in der Cultur der Sprache mit den
Fortschritten oder Hindernissen in der Cultur der Wissenschaften immer in
gleichem Verhältnisse stehen, indem sie wechselseitigen Einfluß auf einander
haben; so ist doch bei dieser Nation diese als Ursache, und jene als Folge zu
betrachten. Sie hat die Cultur der Sprache vernachlässiigt, weil sie die Cultur
der Wissenschaften vernachlässiigt hat. Diese Vernachlässiigung aber hat in
ihren Religionsbegriffen ihren Grund, nach welchen alle Profanen (aus der
Natur des Erkenntnißvermögens und seinen Verhältnisse zu den Objecten der
Erkenntniß zu bestimmenden) Wissenschaften für unnütz erklärt, und die
Cultur einer einzigen sogenannten Wissenschaft, nemlich die ihrer
Religionsgesetze, ihr zur Pflicht gemacht wurde; welche Wissenschaft so wenig
völlig bestimmte Begriffe und aus denselben unmittelbar hergeleitete
Grundsätze, als sichere Methoden, nach welchen alles Uebrige aus diesen ersten
Grundsätzen hergeleitet werden könne, voraussetzt. Die Mängel dieser
Wissenschaft stimmen also mit den Mängeln der Sprache, worin sie vorgetragen
wird, wohl zusammen: wie dieses in der Folge noch mehr erhellen wird. Was aber
die Erziehung des Verfassers anbetrifft, so war diese –
Recensent.
Allem Vermuthen nach, höchst elend. [632]
Verfasser.
Nicht so übereilt, Herr Recensent! Sowohl die allgemeine, als die besondre
Erziehung des Verfassers war, wider alles Vermuthen, mehr gut als schlecht.
Recensent.
Was verstehen Sie unter allgemeiner und besondrer Erziehung?
Verfasser.
Unter der allgemeinen Erziehung verstehe ich die Erziehung eines jeden
besondern Menschen zum Menschen überhaupt, die theils in Wegräumung der
Hindernisse, theils auch in Anwendung der Beförderungsmittel zur Entwickelung
aller menschlichen Fähigkeiten und natürlichen Anlagen besteht; ohne auf den
Unterschied der Subjecte Rücksicht zu nehmen. Wo die Natur mehr eingewickelt
hat, kann freilich die Cultur auch mehr entwickeln; aber der Zweck dieser
allgemeinen Erziehung geht bloß darauf, so viel oder so wenig zu entwickeln,
als sich entwickeln läßt. Der dadurch bestimmte Unterschied der Subjecte ist
nicht Folge dieser Erziehung, sondern der Natur selbst. Diese scheint die
einzige Erziehungsart zu seyn, worauf die neuere Pädagogik Rücksicht nimmt.
Unter der besondern Erziehung aber verstehe ich die Erziehung eines jeden
besondern Menschen zu dem, wozu er nach seinen besondern natürlichen Anlagen
von der Natur bestimmt zu seyn scheint. Es werden diesem zu Folgen, nicht alle
natürlichen Anlagen in gleichem Verhältnisse entwickelt. Der Erzieher richtet
[633] hauptsächlich sein Augenmerk auf die hervorstechenden, sich auf eine
merkliche Art auszeichenden darunter, denen alle übrigen ach diesem
Erziehungsplane subordinirt werden. Er vertritt gleichsam die Stelle der Natur,
und macht ihren Zweck zu dem seinigen. Der Unterschied dieser beiden
Erziehungsarten in Ansehung ihrer Folgen, ist offenbar. Die allgemeine Erziehung
ist für solche Subjecte, die in ihren natürlichen Anlagen nichts
Auszeichnendes haben, die beste. Für solche hingegen, die die Natur zu
besondern Zwecken auserwählt, und vorher bestimmt zu haben scheint, ist ohne
Zweifel die besondere Erziehung die vorzüglichste. Jene macht den Menschen
geselliger, diese aber macht ihn brauchbarer. Ob dieser oder jener Mensch mehr
durch die allgemeine oder durch die besondere Erziehung gewinne (vollkommener
würde), ist zuweilen sehr zweifelhaft. Die Menschheit aber wird gewiß immer
durch diese mehr, als durch jene, gewinnen (Fortschritte zur Vollkommenheit
machen).
Recensent.
Wie ging es nun hierin dem Verfasser?
Verfasser.
Was die moralische Erziehung des Verfassers anbetrifft, so war diese
zum Theil gut, zum Theil schlecht. Ich verstehe unter moralischer Erziehung
nicht die Erziehung zur Moralität (zur Bestimmung des Willens nach dem
praktischen Vernunftgesetze), weil Erziehung zur Moralität in der That
Moralität unmöglich machen würde. [634] Wer aus Gewohnheit und nach dem
Beispiele Anderer dem Moralgesetze gemäß handelt, kann eben darum nicht durch
das Gesetz in der Handlung bestimmt seyn. Ich verstehe also unter moralischer
Erziehung 1) bloß Erziehung zur Legalität; 2) zur Zweckmäßigkeit in den
Handlungen; 3) zur freien Entwickelung der Kräfte als Zweck an sich betrachtet.
Der Verfasser war nun frühzeitig genug auf das Moralgesetz aufmerksam gemacht,
und durch Belohnungen und Strafen zur Legalität angeführt. So weit ging
es gut. Dagegen wurde er in Ansehung der zur Zweckmäßigkeit erforderlichen Klugheit
fast gänzlich vernachlässiigt und in der freien Ausübung der Kräfte sehr
beschränkt.
Recensent.
Erklären Sie mir, wie es damit zugegangen seyn mag.
Verfasser.
Ganz natürlich. Klugheit setzt nicht nur die Ueberzeugung von dem
allgemeinen Grundsatze: Nichts ohne zureichenden Grund, sondern auch die
Einsicht in die besondern Verhältnisse der Dinge als Grund und Folge von
einander, voraus. Woher soll aber die Klugheit kommen bei Menschen, denen nicht
nur, wegen Mangel an Kenntnissen und Wissenschaften, diese Einsicht in
Verhältnisse besonderer Dinge, als Mittel und Zweck, größtentheils mangelt,
sondern die nicht einmal jenen Grundsatz in seiner Allgemeinheit zugeben, und
glauben, daß es Natur[635]erscheinungen geben kann, die keinen zureichenden
Grund in der Natur haben; und eine jede Naturerscheinung, deren Ursache sie
nicht kennen, für eine unmittelbare Wirkung des göttlichen Willens, oder der
ihm untergeordneten, auf die Natur wirkenden, guten und bösen Geister,
erklären: denen psychologische Kenntniß der Motive menschlicher Handlungen
(die, um auf Menschen zweckmäßig zu wirken, höchst nothwendig ist) noch
weniger zu Theil geworden ist; und die der reinen, positiven, moralischen
Freiheit (möglichen Bestimmung des Willens durch Vernunft) die empirische
negative, psychologische Freiheit (absoluter Determinismus) unterschieben? Eine
solche Erziehung ist, wenn auch nicht der Moralität, doch derjenigen
Sittlichkeit, die die Klugheit fordert (sich in andre Menschen zu schicken) und
der davon abhängigen Glückseligkeit höchst hinderlich.
Recensent.
Diese Hindernisse können aber durch Erwerbung richtigerer Begriffe und
Grundsätze, und mehrerer Kenntnisse aus dem Weg geräumt und ihre Folgen
verhütet werden.
Verfasser.
Ja, wenn dieses frühzeitig genug geschieht! Sind hingegen jene
falsche Vorstellungen durch lange Gewohnheit schon tief eingewurzelt und
gleichsam in Empfindungen übergegangen, so ist man durch die nachher erlangte
richtigere Kenntniß desto mehr unglücklich. Man ist in beständigem Streit und
in Unzufriedenheit mit sich selbst. Man hadert [636] beständig theil mit sich
selbst, theils mit dem Zufalle oder der Vorsehung, nachdem man jenen oder diese
als Ursache des nun unabänderlichen Uebels betrachtet; und der Contrast
zwischen sich selbst und andern nicht mit besseren Anlagen von der Natur
begabten, aber glücklichern Menschen, erhöhet noch das unangenehme Gefühl um
Vieles; besonders wenn diese (wie es mehrentheils zu geschehen pflegt), theils
unwissend, theils ungerecht in ihrem Urtheile sind, die durch unmerkliche Stufen
fortschreitende Entwickelung des Menschen entweder nicht zu bemerken, oder nicht
bemerken wollen, welches sie von Andern nach und nach auf eine unvermerkte Art
erlangt haben (ihre Muttersprache z.B., wie auch gewisse mechanische
Operationen, z.B. Schreiben, und gewisse körperliche Bewegungen – wie Tanzen
u. s. w.), scheint ihnen ganz leicht zu seyn, und sie können sich nicht genug
verwundern, wenn ein Erwachsener das entweder gar nicht, oder sehr schwer
erlernen kann, was sie in ihrer Kindheit so leicht erlernt haben. – Doch davon
Mehreres.
Recensent.
Wie ist es nun mit der Entwickelung der Anlagen des Verfassers zugegangen?
Verfasser.
Seine physische Erziehung (die auf Erlangung gewisser körperlicher
Geschicklichkeiten abzielt) wurde gänzlich vernachlässiigt. Sie erhielt eine
sogenannte gelehrte Erziehung; die sich aber bloß auf die, seiner Nation
eigen[637]thümliche Gelehrsamkeit einschränkte; wodurch, ob zwar auf eine sehr
unvollkommene Art, seine höhere Erkenntnißvermögen in Ausübung gesetzt
wurden. Von Wissenschaften hatte er durch besondere Zufälle manche dunkle
Vorstellungen; so erhielt er z.B. von den mathematischen Wissenschaften
einige verworrene und unzusammenhängende Erkenntniß. Er glaubte Sätze mit dem
Verstande zu begreifen, von welchen bloß die Einbildungskraft die
Wahrheit vorher sehen ließ; welches auch, wie die Veranlassung dazu war, nicht
anders seyn konnte; da ihm der Zufall z.B. ein altes astronomisches Werk in die
Hände lieferte, ehe er noch einen Euklid, oder ein ähnliches Werk der
Elementar-Geometrie zu Gesicht bekam; und selbst dasjenige, welches er
zufälliger Weise erhielt, waren nicht etwa Lehrbücher, sondern
mehrentheils Abhandlungen, die schon die Bekanntschaft mit jenen
voraussetzen; Fragmente, oder bei Gelegenheit der Bibelauslegung gegebne Winke
und Anspielungen auf gewisse Erkenntnisse; die beim Leser schon vorausgesetzt
werden, und selbst dieses in schlechten Uebersetzungen aus dem Arabischen, worin
jene Schriften abgefaßt wurden, in`s Hebräische, eine Sprache, die zu arm ist,
um zu einem wissenschaftlichen Vortrag gebraucht werden zu können; und von Werken
des Geschmacks hatte er bis in sein reiferes Alter nicht den mindesten
Begriff.
Recensent.
Wie ist er doch endlich zur wissenschaftlichen Erkenntniß gelangt? [638]
Verfasser.
Die besondern Veranlassungen und Mittel dazu können Sie aus des Verfassers
Lebensgeschichte zur Genüge ersehen. Der Verfasser will sich hier bloß auf die
besondern Methoden einschränken, die er zu diesem Behuf hat ergreifen
müssen. Nachdem er in seinem Vaterlande seine besten Kräfte in beständigem
Kampfe mit Mangel und Hindernissen verschwendet und eine lange Zeit nach
wissenschaftlicher Erkenntniß vergebens geschmachtet hatte, kam er endlich in
seinem acht und zwanzigsten Jahre nach Deutschland, in einem Alter, wo man vor
Ungeduld, den lang erwünschten Zweck zu erreichen, die Mittel zu
vernachlässigen pflegt. Er lernte daher Deutsch schreiben und lesen,
nicht auf die gewöhnliche Art, sondern geniemäßig durch eine Art des
Dechiffrirens. Eben so rasch nach seinem festgesetzten Plane und keiner
bestimmten Ordnung schritt er zum Studium der Wissenschaften. Er eilte zu den Hauptwissenschaften,
und vernachlässigte die Hülfswissenschaften; und erst dann, wann er bemerkte,
daß er in jenen ohne diese nicht weiter fortkommen konnte, nahm er den Rückweg
von jenen zu diesen. So mußte er z.B. von der Metaphysik zur Logik, von der
angewandten Mathematik zur reinen, zurück gehen, u. d. g.; und auf diese Art
nach und nach immer seinem Wunsche näher kommen.
Recensent.
Dieses rasche und einigermaßen gewaltsame Verfahren, Erkenntniß nicht durch
eine Art von Capitulation zu erhal[639]ten, sondern gleichsam mit Sturm zu
erobern, mußte in dem Verfasser selbst große Erschütterungen, und in seinem
Gedankensystem wichtige Revolutionen hervorbringen.
Verfasser.
Allerdings. Der Verfasser glaubt drei Haupt-Epochen dieser Revolution
angeben zu können, die durch drei wichtige Lehren, die er zu
verschiedenen Zeiten von drei großen Männern erhalten hat, in ihm verursacht
worden sind. Von Maimonides hat er den Unterschied zwischen dem
eigentlichen und uneigentlichen Ausdruck in der Sprache gelernt, und, daß man
diejenigen Stellen der heiligen Schrift, deren eigentlicher Sinn der Vernunft
zuwider ist, in figürlichem Sinne nehmen muß. Dieses verursachte bei ihm eine
sehr wichtige Revolution; indem durch diese Ausgleichung zwischen Vernunft und
Glauben, jene von den Banden, welche dieser ihr auflegt, befreiet wurde. Die
Vernunft konnte nun ungehindert ihren Weg zur Vollkommenheit fortgehen und der
Glaube immer vernünftiger werden. Diese Revolution betraf also hauptsächlich
seine Religionsbegriffe. Von Wolf hat er den formellen Unterschied
der Begriffe (dunkle, klare, deutliche u. s. w.) gelernt. Dieses zündete ein
neues Licht in seinem Gedankensysteme an. Nun entdeckte er erst, daß von dem
ganzen Vorrath von Begriffen, die er bisher gesammelt hatte, fast kein einziger
die Erfordernisse zu einem ausführlich deutlichen Begriff hatte; welchen Mangel
er durch solche Erklärungen zu ergänzen suchte, die den Begriffen diese [640]
formelle Vollkommenheit verschaffen. Freilich waren solche Erklärungen, aus
Mangel an genauer Sprachkenntniß, nicht selten willkührlich und nicht dem
Sprachgebrauche gemäß. Endlich von Kant hat er gelernt den Unterschied
zwischen bloß formeller und reeller Erkenntniß, und daß jene nicht
hinreichend ist, diese zu bestimmen. Dieß hatte den negativen Vortheil, die
durch bloße Erklärungen bestimmte vermeintliche reelle Erkenntniß auf
Bedingungen einer möglichen Construction einzuschränken.
Recensent.
Trieb nicht der Verfasser die gedachten Lehren weiter, als es die Absicht
ihrer Urheber gewesen seyn mag?
Verfasser.
Allerdings. Die sogenannte Harmonie zwischen Glauben und
(theoretischer) Vernunft ist seiner Meinung nach, nichts anders, als die
gänzliche Aufhebung des erstern durch die letztere. (2)
Wenn z.B. der transscendente Begriff von Sprachen nichts mehr enthält, als:
Ursache seyn, von der Entstehung gewisser Vorstellungen in einem Andern; und
Gott, als ein reiner Geist, keine Sprachorgane haben, noch in eigentlicher
Bedeutung spre[641]chen kann; so kann der Ausdruck: Gott sprach zum Moses,
nichts anders heißen, als: Es entstanden im Moses Vorstellungen (durch
Mittelbarsuchen, die die Vernunft nicht wegzudenken zugiebt), deren erste
Ursache Gott, d.h. die erste Ursache aller Dinge, war. Auf diese Art aber
spricht Gott zu jedem Menschen; was bleibt nun hier dem Glauben an das Besondre
dieses Sprechens übrig?
Die Definitionswuth ging beim Verfasser anfangs sehr weit. Alles, selbst die allerbekanntesten Dinge mußten definirt werden, welche Wuth aber nachher (durch die Kantische Epoche) ziemlich nachließ.
Recensent.
Aber die dritte Lehre, sollte man denken, kann nicht weiter getrieben werden;
und da der Verfasser den Unterschied zwischen bloß formeller und reeller
Erkenntniß eingesteht, indem sich jene auf ein, seinem Inhalt nach,
unbestimm[t]es Object überhaupt, diese aber auf ein bestimmtes (a priori
oder a posteriori gegebenes) Object bezieht; so kann durch jene einem
gegebenen Object, nichts anders, als dasjenige analytisch (das vermöge der Form
Allgemeine, das auch in jedem Besondern angetroffen werden muß,) beigelegt
werden, was einem Objekte überhaupt zukommen muß, durch diese hingegen wird es
synthetisch (durch die nothwendige Verknüpfung der beizulegenden Eigenschaften
mit dem, seinem Inhalte nach bestimmten Wesen,) bestimmt. Nun giebt es aber
außer der Form des Denkens, nichts anders, wodurch ein Object seinem Inhalte
nach bestimmt werden [642] kann, als Anschauung. Mögliche Anschauung ist also
die materielle Bedingung eines reellen Objects überhaupt.
Verfasser.
Der Verfasser glaubt, daß damit das Geschäft einer Kritik des
Erkenntnißvermögens noch bei weitem nicht vollendet sey. Die Frage ist
hier nach einem synthetischen Grundsatze aller synthetischen Erkenntniß.
Nun ist aber mögliche Construction (Darstellung in einer möglichen Anschauung)
kein synthetischer Grundsatz, wodurch neue synthetische Erkenntniß bestimmt
werden kann, sondern bloß die allgemeine Bedingung der Möglichkeit
synthetischer Erkenntniß überhaupt. So wenig die Vorstellung des Raumes, als
Bedingung aller geometrischen Objecte, einen synthetischen Grundsatz abgiebt,
wodurch die Erkenntniß dieser Objecte erweitert werden kann, indem die
Vorstellung des Raumes überhaupt eine zwar materielle, aber dennoch bloß
analytische Bedingung ist (in einem jeden bestimmten Raume muß Raum überhaupt
enthalten seyn), die Axiome und Postulate aber, die eigentliche Grundsätze der
Geometrie sind, durch deren mannigfaltige Verbindung diese Wissenschaft
erweitert wird: eben so ist mögliche Anschauung überhaupt kein synthetischer
Grundsatz, sondern eine analytische Bedingung einer jeden gegebenen
Anschauung. Eben so ist der Grundsatz aller empirischen Erkenntniß: Mögliche
Erfahrung (nothwendige Verknüpfung der Erscheinungen), kein synthetischer,
sondern ein analyti[643]scher, ja sogar identischer Grundsatz. Soll Erfahrung
d.h. Erkenntniß einer nothwendigen Verknüpfung der Erscheinungen möglich seyn,
so muß diese nothwendige Verknüpfung nach irgend einer logischen Form
hinzugedacht werden. Es sieht also mit dergleichen Grundsätzen sehr übel aus.
Sie sind bloß darum absolut nothwendig und allgemein gültig,
weil sie identisch sind, und also gar nichts sagen.
Recensent.
Da aber doch der Verfasser eingestehen muß, daß wir im Besitze
synthetischer Erkenntnisse sind, so muß er doch diese, wenn auch nicht als
Grundsätze zur Erweiterung der Erkenntnißgründe zur Begründung
derselben zugeben.
Verfasser.
Dieses Factum, (daß wir im Besitze synthetischer Erkenntnisse sind)
hat in Ansehung synthetischer Erkenntnisse a priori (der Mathematik)
allerdings seine Richtigkeit. Auch kann der Erkenntnißgrund (die materielle
Bedingung der Möglichkeit dieser Erkenntnisse) durch mögliche Construction
nicht geleugnet werden. In Ansehung der empirischen Erkenntnisse (der
Naturerscheinungen) hingegen ist mögliche Erfahrung nicht nur, wie schon
bemerkt worden, an sich tautologisch, sondern auch, weil das Factum (daß
wir im Besitze nothwendiger empirischer Erkenntisse sind), nach D. Hume
bezweifelt werden kann, von gar keinem Gebrauche. [644]
Recensent.
Da aber der Verfasser die Unentbehrlichkeit einer Kritik des
Erkenntnißvermögens überhaupt zugesteht, so wünschte ich zu wissen die Art,
wie er diese Mängel der Kantischen Kritik durch seine eigene zu verbessern
sucht?
Verfasser.
Er geht in seiner Kritik ebenfalls von der Frage aus: Wie sind
synthetische Sätze möglich? die aber nicht, wie in der Kantischen Kritik,
in folgenden zweien Fragen: Wie sind synthetische Sätze a priori:
wie sind synthetische Sätze a posteriori, möglich, (weil er das Factum
in Ansehung der zweiten Frage bezweifelt) sondern in andern zweien
Fragen: Wie sind synthetische Sätze a priori, wodurch die
Möglichkeit der Objecte (z.B. Raum kann in drei Linien aber nicht in zwei
eingeschlossen werden) bestimmt wird; und: wie sind synthetische Sätze a
priori, wodurch den möglichen Objecten Prädicate, die in ihrer
Construction unmittelbar nicht erkannt (z.B. daß die Summe der Winkel in einem
Dreiecke zweien Rechten gleich ist), beigelegt werden, möglich? Objecte a
priori werden durch synthetische Urtheile, wodurch die mögliche
Verknüpfung in der Anschauung erkennbarer Merkmale bestimmt wird (z.B. durch
das Urtheil: Raum kann in drei Linien eingeschlossen seyn, wird das Dreieck als
ein mögliches Object a priori bestimmt) erkannt, und umgekehrt die an
sich schon erkannten möglichen Objecte bestimmen wiederumm neue Urtheile (worin
sie als Subjecte vorkommen.) Die [645] erste Frage ist also: Was ist das als
Grundsatz aufzustellende allgemeine Kriterium, nicht eben der materiellen
Wahrheit, wovon ein allgemeines Kriterium unmöglich ist, sondern bloß der
Möglichkeit der ersten Urtheile? Daß z.B. Raum nicht in zwei, wohl aber in
drei Linien eingeschlossen werden kann, kann nicht nach irgend einem allgemeinen
Kriterium beurtheilt werden, weil die materielle Wahrheit dieses Satzes in dem
Besondern dieser Vorstellungen gegründet ist, wovon ein allgemeines Kriterium
einen Widerspruch enthält. Daß aber überhaupt Raum von Linien, es mögen seyn
zwei oder mehrere, begrenzt werden kann, und daher eine geometrische Figur
überhaupt möglich ist, und daß dem Raum das Prädiakt der Süßigkeit
nicht zukommen kann, und also ein süsses Dreieck unmöglich ist; davon
kann und muß sich allerdings ein allgemeines Kriterium der Beurtheilung angeben
lassen. Was ist nun dieses Kriterium? Diese Frage beantwortet der Verfasser
dadurch, daß er den Satz der Bestimmbarkeit als ein solches Kriterium
aufstellt. (S. Maimon`s Logik und kritische Untersuchungen u. s. w.) Die zweite
Frage ist: Wie können Sätze sich auf ein Object beziehen, deren Wahrheit
nicht unmittelbar durch die Construction des Objects erkannt wird? Die
Antwort auf diese Frage ist: durch eine mögliche Reduction, indem man
eben dieselben gegebenen Stücke als in verschiedenen Objecten zugleich
enthalten, betrachtet, und die gesuchten Stücke von den Objecten, worin sie
gegeben, auf die, worin sie gesucht werden, überträgt. So wenig aus dem
Be[646]griffe, als der Construction eines gleichschenklichten Dreiecks, kann
unmittelbar hergeleitet werden, daß die Winkel an der Basis einander gleich
sind, sondern bloß vermittelst einer Reduction, nach welcher der, der Basis
gegenüberliegende Winkel als in dem gegebenen gleichschenklichten Dreiecke und
auch zugleich der gleiche Winkel in zweien Dreiecken, dessen einschließende
Seiten (einzeln genommen) in beiden gleich sind, betrachtet wird, und die in
diesen bekannten gleichen Stücke auch in diesem gleichschenklichten Dreieck
dadurch als gleich erkannt werden. Durch den Grundsatz der Bestimmbarkeit wird
die allgemeine materielle Bedingung der Möglichkeit einer Materie
überhaupt; durch den einer möglichen Reduction aber, die der gegebenen Materie
zukommende Form (wo dieses unmittelbar nicht angeht) a priori bestimmt.
Recensent.
Wie es scheint, fordert der Verfasser zu dem von Kant aufgestellten Grundsatz
aller synthetischen Erkenntniß a priori: mögliche Construction noch
einen andern Grundsatz. Wo soll man nun mit dieser Forderung aufhören?
Der Verfasser.
Da Kant kein allgemeines Kriterium angegeben hat, nach welchem man vor der
wirklichen Construction, von ihrer Möglichkeit urtheilen kann, so kann diese
Möglichkeit bloß durch die Wirklichkeit erkannt werden, die in Ansehung [647]
der, ihr zu subsumirenden empirischen Objecte, allerdings a priori gilt;
an sich aber ist diese Möglichkeit nicht a priori vor der mathematischen
Wirklichkeit erkennbar. Nun aber kann das Factum nicht geläugnet werden,
daß wir im Besitze synthetischer Erkenntnisse sind, die sich auf die
Möglichkeit einer Construction streng a priori, vor ihrer Wirklichkeit
beziehen. Die mögliche Construction eines gleichseitigen Dreiecks z.B. erkennen
wir bloß durch ihre Wirklichkeit, so wie die unmögliche Construction eines
rechtwinklichten gleichseitigen Dreiecks durch Aufhebung einer dieser
entgegengesetzten Construction. Daß aber dennoch das letztere so wie das
erstere ein, wenigstens in so fern reelles Object ist, als ihm als Subjecte ein
(wenn auch verneinendes) Prädicat synthetisch beigelegt werden kann; da
hingegen ein tugendhaftes Dreieck z.B. von uns unmittelbar (ohne erst
seine, oder die ihm entgegengesetzte Construction zu versuchen) für ein bloß
logisches (indem es keinen Widerspruch enthält) aber nicht für eine reelles
Object erkannt wird, beruhet nicht auf der Wirklichkeit (die in beiden Fällen
nicht Statt findet), sondern auf dem Grundsatze der Bestimmbarkeit. Sowohl
gleichseitig, als ungleichseitig, sowohl rechtwinklich als schiefwinklich, sind
mögliche Bestimmungen des Dreiecks, nur, daß gleichseitig und rechtwinklich
einander in eben derselben Construction aufheben. Dahingegen ist so wenig
Tugend, als Laster, eine mögliche Bestimmung des Dreiecks. Ein gleichseitiges
Dreieck ist z.B. eine positive; ein rechtwinklichtes ebenfalls eine positive,
jener entgegengesetzte Größe. Zusammen genommen machen sie ein [648] Nihil
negativum aus. Ein tugendhaftes Dreieck aber ist ein Nihil privativum.
Der Satz der Bestimmbarkeit ist also der höchste Grundsatz, wodurch die
mögliche Construction a priori, vor ihrer Wirklichkeit, bestimmt wird.
(1) Die Ur-Einwohner von Lithauen sind Letten; Stammesverwandte der Letten in Liefland und der vormaligen Preußen. Nachkommen dieser Letten sind die Bauern oder Leibeigenen in Littauen. Der Adel oder der Stand der heutigen Guterbesitzer daselbst ist Polnisch. Anmerk. des Herausgebers. zurück
(2) Aus dem Zusammenhange sieht man zwar, wer nicht flüchtig lieset, deutlich genug, daß der Verfasser nur vom Offenbarungsglauben spricht. Aber es that doch vielleicht Noth, aufmerksam darauf zu machen. Anmerk. des Herausg. zurück