Probe rabbinischer Philosophie

 

In: Berlinische Monatsschrift. 1789. Bd. XIV, 171-179. [GW I, 589-598]

 

An die Herren Herausgeber.
Meine Hochzuverehrenden Herren!

Da die Absicht Ihrer vortrefflichen Monatsschrift, die Beförderung unserer Aufklärung durch Verbreitung nützlicher Kenntnisse, durch Berichtigung der Begriffe, und besonders durch Sammlung aller möglichen dazu beitragenden Data aus der Geschichte der Menschheit, von allen Zeiten und Ländern ohne Unterschied, ist; so hoffe ich, daß Sie auch nachstehenden Aufsatz eines Platzes in Ihrer Monatsschrift würdigen werden.

Unser sel. Moses Mendelssohn faßte vor einigen Jahren den Gedanken, Uebersetzungen einiger moralischen Sentenzen und Anekdoten, unter dem Titel: "Proben Rabbinischer Weisheit," [590] zu liefern (1). Diesen nützlichen Gedanken bin ich Willens (mit Ihrer Erlaubniß) nachzuahmen. Hier haben Sie die erste Probe davon: nehmlich die Uebersetzung einer Stelle aus der Mischna, samt des Maimonides Kommentar, und meiner eignen Erläuterung des letztern. Zwar ist diese Probe zu sehr spekulativ gerathen, folglich für die Lesewelt zu trokken; und mein eigner Zusatz mag wohl, wie ich gern gestehen will, noch mehr als trokken sein. Allein, ich habe auch in Ihrer Monatsschrift schon mehrere Aufsätze gefunden, die ziemlich spekulativ sind; und warum soll man immer den Gaumen des Publikums nur zu kitzeln suchen? Man muß ihnen auch zu harten Speisen, wenn sie sonst nahrhaft sind, gewöhnen.

Uebrigens hoffe ich nicht, daß daraus, weil ich den Maimonides nach Kantischen Prinzipien erläutere, irgend ein denkender Leser mir den Vorwurf machen wird: als wollte ich dadurch den verdienten Ruhm unsers großen Zeitgenossen schmälern, indem ich zu zeigen suche, daß man schon im zwölften Jahrhundert (2) eben so dachte. Keineswegs! Sondern, so wie es uns Vergnügen macht, die zukünftige Pflanze im Saamenkorne, obschon noch unentwickelt, zu erblikken; so macht [591] es dem denkenden Kopf nicht wenig Vergnügen, neu erfundene Systeme mit ihrem ersten Keim in ältern Zeiten zu vergleichen, um die Aehnlichkeit zwischen denselben, wenn sie nur treffend obwohl nicht völlig sein mag, zu entdekken. Dies kann uns neue Aussichten in der Geschichte der Wissenschaften eröffnen. – Auch werde ich nicht immer spekulativ sein, sondern zuweilen auch populär: nach demjenigen was mir dazu am schicklichsten scheinen wird.

Mischnah Abbath.
"Rabbi Elieser sagt: Ohne u.s.w. – – (3) Ohne Daath (Erkennen) giebt es kein Binah (Begreifen, Verstehen); und ohne Binah giebt es auch kein Daath, u.s.w. – "

Maimonides Kommentar.
"Er (Rabbi Elieser) will damit sagen: daß jedes der zwei Dinge (die er zusammenpaart) zur Existenz des andern beiträgt, und dasselbe ergänzt. – Was er aber von Daath und Binah sagt, ist eine sehr feine philosophische Spekulation. Ich will es nur berühren, indem ich mich auf den Verstand dessen, der darüber nachgedacht [592] hat, verlasse. Also: Daath (Erkennen) ist dasjenige was wir (ohne Zuthun unsrer freiwilligen Thätigkeit) bekommen. Daß wir aber Verstandesbegriffe erlangen, und dies (auf zweierlei Weise) entweder indem wir die Form (von der Materie) abstrahiren, und uns einen Begrif davon machen; oder indem wir Begriffe von den an sich abstrakten Formen erlangen, ohne daß wir sie zu einem Erkennen machen, sondern so, daß sie schon ihrer Existenz nach (an sich) ein Erkennen sind: dieses heißt Binah. Und dieses ist eben Daath; und durch das Daath bekommen wir Begriffe. – Er wollte gleichsam damit sagen: daß, so lange wir keinen Begrif haben, wir auch kein Erkennen haben; und daß ohne das Erkennen wir auch keinen Begrif haben können: denn nur durch das Erkennen erlangen wir denselben. – Dieses ist selbst aus den Büchern, die darüber geschrieben worden sind, schwer zu begreifen; wie vielmehr denn hier, wo wir nur einen Wink davon geben wollen?"

Ehe ich zur Erläuterung dieser kurzen, aber zugleich tiefsinnigen, Stelle schreite, muß ich vorher einige Definitionen voraus schikken.

  1. Erkennen heißt: einen Begrif auf einen Gegenstand beziehen, oder den letztern dem erstern subsumiren. [593]
  2. Denken heißt: einen Begrif oder ein Urtheil, überhaupt Einheit, die sich auf etwas Mannigfaltiges bezieht, hervorbringen.

Ferner: Das Erkennen setzt entweder das Denken, oder das Denken setzt das Erkennen voraus. Ich will mich darüber erklären. Ich denke z.B. nach einer Verstandesregel den Begrif eines Zirkels (eine Figur von der Art, daß alle Linien, die von einem gegebenen Punkt in derselben zu ihrer Gränze gezogen werden können, einander gleich sind); alsdann finde ich eine Zirkel in der Wahrnehmung, z.B. auf dem Papier gezeichnet; und nun urtheile ich: dieses hier ist ein Zirkel. D.h.: ich erkenne, daß dieser mir vorkommende Gegenstand dem von mir (nach einer Verstandesregel) schon gedachten Begrif eines Zirkels subsumirt werden muß. Hier geht also das Denken vor dem Erkennen voraus. – Hingegen, wenn mir ein Gegenstand, die rothe Farbe z.B., gegeben wird, so daß ich dadurch Etwas (Bestimmtes) erkenne, und von allem übrigen unterscheide; so ist hier noch kein Denken. Vergleiche ich aber diesen Gegenstand mit einem andern, und finde, daß dieselben einerlei oder daß sie verschieden u.s.w. sind, alsdann denke ich: zwar keine Gegenstände; aber doch die Begriffe von Einerlei und Verschieden, durch Veranlassung der Gegenstände. [594]

Die Formen des Denkens, sind das reine Denken selbst. Sie geben aber (eben darum, weil sie allgemeine Formen sind, wodurch alle Gegenstände überhaupt gedacht werden) kein Erkennen irgend eines bestimmten Objekts. Weil aber die Möglichkeit (Realität) dieser Formen, vor ihrer Anwendung auf gegebne Gegenstände der Anschauung, bloß problematisch ist; so haben sie sogar alsdann keine Bedeutung. Denn, wenn ich z.B. sage: a ist mit b einerlei; so ist die Bedingung der Realität dieses Begrifs, daß a und b besondre Gegenstände bedeuten müssen. Denn, wenn man sagen wollte: ein logischer Gegenstand ist ein logischer Gegenstand; so daß ich durch dieses Urtheil gar nichts denken würde. Dieses ist noch merklicher in dem verneinenden Urtheile: a ist von b verschieden. Nimmt man nun a und b bloß logisch (unbestimmt) an; so hat dieses Urtheil gar keine Bedeutung: denn ein logischer Gegenstand kann von einem logischen Gegenstand, d.h. von sich selbst, nicht verschieden sein. – Folglich haben diese Denkformen, als bloße Formen, von allem Inhalt abstrahirt, gar keine Bedeutung. Sie bekommen also nur durch ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung ihre Realität. Hier sieht man also: daß das Denken (dieser Formen) das Erkennen derselben in Konkreto (in besondern Gegenständen) [595] voraussetzt, ohne welches sie keine Realität haben würden; aber auch umgekehrt: daß das Erkennen, d.h. das Subsumiren der Gegenstände unter diesen Formen oder Begriffen, das Denken dieser letztern voraussetzt.

Es ist aber zu bemerken, daß wenn gleich, wie gesagt, bei einzelnen Anschauungen, entweder das Erkennen dem Denken oder dieses jenem vorausgeht, dieses doch nur so in Ansehung unsers Bewußtseins ist, an sich aber beide einander (so wie bei Verknüpfung mehrerer Anschauungen) nothwendig voraussetzen. Denn, wenn ich einen Zirkel, in der Wahrnehmung, finde: so hat freilich, in Ansehung meines Bewußtseins (des Wahrnehmens) der Begrif des Zirkels oder sein Denken seinem Erkennen (in der Anschauung) vorausgehen müssen; da aber das reelle Denken (nicht das bloß symbolische) im Konstruiren desselben besteht: so war er schon, ehe er in einer Wahrnehmung gegeben worden, ein Objekt des Denkens als des Erkennens. – So auch im zweiten Beispiele. Zwar habe ich gesagt: das Erkennen (einer besondern Anschauung) geht vor dem Denken (d.h. vor ihrer Beziehung auf andre Anschauungen vermittelst eines reinen Verstandesbegrifs) voraus. Aber so ist es nur, nachdem wir zum Bewußtsein derselben gelangt sind. Denn vorher mußten wir doch die einzelnen Vorstellungen, die zu einer Anschauung gehören, (vermöge ihrer Einerleiheit [596] unter- oder ihrer Bestimmbarkeit durch-einander) durch Verstandesbegriffe, zu Anschauungen verknüpfen; d.h. zu einer (durch diese Verknüpfung) auf einen Gegenstand sich beziehenden Vorstellung machen. Woraus man sieht, daß auch hier das Erkennen (eines Gegenstandes der Anschauung) nicht ohne Denken hat vor sich gehen können.

Nachdem ich nun dieses festgesetzt habe, kehre ich izt zur Erläuterung meines Autors zurük. – "Erkennen ist dasjenige was wir, bekommen." Z.B. die einzelnen sinnlichen Vorstellungen; das Materielle in der Erscheinung, das uns a posteriori gegeben wird; wie auch die Kategorieen, nicht zwar an sich als bloße Formen, sondern in Ansehung ihrer nothwendigen Beziehung auf Gegenstände der Erfahrung. – "Daß wir aber Verstandesbegriffe erlangen, entweder dadurch, daß wir die Form von der Materie abstrahiren, und uns einen Begrif davon machen" – : wie wenn man den rothen Gegenstand a mit einem andern rothen Gegenstand b vergleicht, und urtheilt: daß sie etwas Einerlei, nehmlich das Rothe, haben; wodurch wir diesen Begrif, von seinem Gegenstande abstrahirt, an sich betrachten – "oder indem wir Begriffe von den an sich abstrakten Formen erlangen, u.s.w." Hier zielt Maimonides auf diejenigen Begriffe, wodurch ein Gegenstand a priori gegeben, konstruirt, wird. Diese werden nicht erst durchs Urtheilen, oder Subsumiren der An[597]schauungen unter denselben, zu Gegenständen der Erkenntniß (weil sie in der Erfahrung niemals adäquat angetroffen werden können); sondern sie sind schon an sich, durch ihre Bedingungen die in der Konstruktion begriffen werden, Gegenstände der Erkenntniß. – "Dieses also heißt Denken. Auch können wir durchs Erkennen selbst Begriffe erlangen u.s.w." Er zielt damit auf die Kategorieen, die erst durch das Urtheilen: daß sie in den Gegenständen der Wahrnehmung (den Anschauungen) anzutreffen sind, ihre Realität bekommen.

Daß diese Erläuterung nicht erzwungen ist, hoffe ich, wird mir jeder, der sich auf der einen Seite das Kantische System, auf der andern Seite aber die Hebräisch-philosophische Sprache unsers Autors, geläufig gemacht hat, sicher eingestehn.

Berlin.
Salomon Maimon.

 

(1) Einige derselben stehen in des H. Prof. Engels "Philosophen für die Welt." zurück

(2) Die Mischnah (zweites Gesetz) ward von R. Juda dem Heiligen um das Jahre 200 gesammelt. Der berühmte Philosoph und Arzt, R. Moses Maimonssohn aus Kordova in Spanien gebürtig, durchlebte mehr als die letzte Hälfte des zwölften Jahrhunderts: geb. 1139, gest. 1205. zurück

(3) Hier kommen mehrere Zusammenstellungen, auch physischer Dinge vor. zurück